Ein großer Ankleidespiegel als Portal in den Hades. Orpheus berührt die Oberfläche des Spiegels. Konzentrische Kreise lösen sich von seinem Finger, das Glas wird flüssig und durch eine quecksilberne See schlüpft er hinüber auf die andere Seite. Jean Cocteau adaptierte für seinen Film „Orphée“ von 1940 die Geschichte des Orpheus, jenem tragischen Sänger der griechischen Mythologie, der erfolglos versuchte seine Frau Eurydike aus der Unterwelt zu retten. Hunderte Bahnen von Videotape, endlos mit Cocteaus Film bespielt, bilden die schwarzen, raschelnden und spiegelnden Wände in Gregor Hildebrandts Ausstellung „auf Wasser schlafend rauscht das Meer“ im Mai 2015 bei WENTRUP. Hier zeigt sich auch schon exemplarisch jene außerordentliche Umwandlung des Materials, die Hildebrandt in seinem Werk stets weiter entwickelt und über die Jahre installativ verfeinert hat. Dem Audio- und Videotape, ein nunmehr schwindendes Material zum Aufzeichnen und Bewahren von Ton und bewegtem Bild, schreibt Hildebrandt eine neue Funktion zu, in dem er es als künstlerisches Medium einsetzt. Dem Träger von unsichtbarem Bild und stillem Klang kommt dabei eine ungleich größere Funktion zu, wenn Hildebrandt es aus seinem Behälter befreit. Die Wände der Ausstellung aus Tape werden zu dunklen, durchlässigen Vorhängen hinter denen eine Parallelwelt wartet und gleichen damit Cocteaus Spiegelportal, das in dem auf Band aufgezeichneten Film selbst unsichtbar enthalten ist.

Innerhalb seiner Installationen begegnen uns nun Dinge, die gleichsam von der Hildebrandt’schen Nostalgie und Faszination für ausrangierte Klang- und Bildspeicher zeugen. Dort gibt es beispielsweise eine Leinwand aus hunderten von Rechtecken in erdigen Farben. Durchsetzt von nachtblauen und grauen Feldern erinnert das Bild zunächst an ein Mosaik. Das künstlerische Material der Leinwand ist jedoch jenes kleine Filzstück, dass das Kassettenband an den Tonkopf in Audiotapes drückt und sich hier in hundertfacher Ausführung als abstraktes Muster zusammenfügt. Darüber hinaus finden sich Objekte, die über das Kassettenband hinaus Hildebrandts Transformation des Alltäglichen zu etwas Poetischem nachvollziehbar machen. Die „Saturnischen Getränke“ beispielsweise zeugen von einem zufälligen, wenngleich nicht minder erstaunlichen Moment. Beim Verschließen eines Kabinetts in Hildebrandts Wohnung brach ein perfekter Ring vom oberen Rand eines Champagnerglases ab. Dieser Ring sitzt nun, auf den Kopf gestellt und dem saturnischen Eis- und Gesteinsring recht ähnlich, auf seinem Ursprungskörper. Hier zeigt sich umso deutlicher: In Hildebrandts Ausstellung hallt die surrealistischen Idee nach, das feste Mauerwerk zwischen Traumwelt und Wirklichkeit durchlässig zu machen. Seine Leinwände und Objekte, insbesondere aber seine Gesamtinstallationen laden ein, für eine Weile in seiner Parallelwelt zu wandeln.

Die Ausstellung bei WENTRUP baut auf Hildebrandts vorangegangen Installationen in New York „Die Geschichte läuft über uns“ und der Brüssler Schau „Orphische Schatten“ auf und findet in Berlin nun seine dritte umfassende Form. „auf Wasser schlafend rauscht das Meer“ nimmt nicht zuletzt nochmals auf Cocteau Bezug, denn zum Ende des Film scheint, wie in Hildebrandts Ausstellung, alles nur im Traum geschehen.

Gregor Hildebrandt (geboren 1974) lebt und arbeitet in Berlin. Er hatte internationale institutionelle Einzelausstellungen im Museum van Bommel van Damm (NL), der Berlinischen Galerie, Berlin und dem Contemporary Art Museum St. Louis (USA). Gregor Hildebrandt hat an vielen internationalen Gruppenausstellungen teilgenommen, so unter anderem im Bass Museum of Art, Los Angeles, Centre Pompidou in Paris, Miami Art Museum, Miami, ICA Boston, Boston, Kunsthalle Andratx in Mallorca, Temporäre Kunsthalle Berlin, Berlin und demTel Aviv Art Museum, Tel Aviv (Israel).

Werke von Gregor Hildebrandt sind in den öffentlichen Sammlungen des Centre Pompidou, Berlinische Galerie, Saarland Museum, Saarbrücken und dem Museum van Bommel van Dam (NL) als auch in privaten Sammlungen vertreten.