Nun ist sie vorbei, die Bonnard-Ausstellung im Musée d’Orsay, und zieht weiter nach Madrid. Ihr Untertitel, „Peindre l’Arcadie“ (dt. Arkadien malen), steht prototypisch für die Kunst von Pierre Bonnard. Arkadien gibt es zwar auch in der Realität, es liegt in der griechischen Peloponnes, doch es ist vor allem mythenumrankter Inbegriff jener ländlichen Idylle, die der Künstler in seinem Werk so hartnäckig der Wirklichkeit entgegensetzte. Wo sind die beiden Weltkriege in seinen Bildern? Sie sind schlichtweg inexistent. Dort in seinen Gemälden blüht die Flora in allen Farben, die Tiere sind oft genug im besten Sinne niedliche Details wie der Labrador, der – leicht zu übersehen – im Kirschkuchen (1908) selbigen sehnsüchtig in seinen Mund zu starren versucht. Und die Frauenakte beziehen ihre Schönheit wie bei kaum einem anderen Maler aus ihrer Natürlichkeit. Sie sind schön, weil sie so sehr Frau sind.

Doch gerade bei diesen Akten – besser: den Frauenfiguren – möchte ich innehalten. Denn in jener vorgeblichen Idylle, zwischen all dem Pittoresken, Lustigen und Friedvollen, existieren auch Abgründe. Wie jene Frauenbekanntschaft, die Bonnard mit fast fünfzig Jahren machte.

Wir kennen Marthe, Bonnards Frau und Modell für solch zauberhafte Aktgemälde wie Trägheit (1899), dem Farbgebung und Pose – man beachte auch die Katze neben dem Kopf des Aktes – jene besondere, träumerische Erotik verleihen, die zugleich etwas Nachdenkliches, vielleicht gar Einschüchterndes in sich trägt. Marthe finden wir auch in den zahllosen Badezimmerbildern wieder, die oft weniger Wärme als vielmehr Kühle ausstrahlen. Sie litt in späteren Jahren an Hautproblemen, die ihre Badegänge zu einer – ärztlich verordneten – Obsession machten. So wenig wir daran zweifeln können, dass es Marthe war, die die Inspiration zu diesen Gemälden lieferte, so sehr müssen wir doch konstatieren, dass wir es hier mit einer idealisierten und ihrer Persönlichkeit entkleideten Version von ihr zu tun haben: gesichtslos und ewig jung. Wer war diese Marthe?

Marthe hieß eigentlich Maria Boursin, was sie Bonnard über Jahrzehnte verheimlichte. Ihre Herkunft blieb im Dunkeln, weil sie ein Problem war. Der aus gutbürgerlichem Hause stammende studierte Rechtswissenschaftler Bonnard war 26, als er Marthe de Méligny, wie sie sich vorstellte, kennenlernte, 16 Jahre alt, so behauptete sie, was um acht Jahre gelogen war. Dem Vernehmen nach hatte sie ihn über ihr Alter getäuscht, um sich interessanter zu machen und dem bedeutungslosen Leben zu entfliehen, dem sie entgegensah. Sie stammte aus einfachsten Verhältnissen und hatte gerade die französische Provinz in Richtung Paris verlassen, als ihr prompt jener junge Künstler in der Straßenbahn nachstieg. Familie und Freunde des bereits zum revolutionären Japonisten und Nabi gereiften Bonnard waren einigermaßen verstimmt.

Und so blieben die beiden lange Künstler und Muse, ohne zu heiraten. Ihre Beziehung kannte auch Zeiten des Aufruhrs. In depressiven Anwandlungen schnitt Marthe Bonnard vom sozialen Leben ab, isolierte ihn nicht zuletzt von seinen Künstlergefährten. Es entstanden Reibungen, Trennwände wie jener Wandschirm, der sich in Mann und Frau (1900) zwischen die Liebenden schiebt. Bonnard hatte mehrere Mätressen und da er nun einmal Künstler war, hielt er diese auch malerisch fest. Die spannendste unter ihnen hörte auf den Namen Renée Monchaty.

Renée Monchaty trat 1916 in das Leben des Künstlers, er war also bereits ein Spätvierziger. Er bat sie, für ihn Modell zu sitzen, und ab 1918 entspann sich eine leidenschaftliche Affäre. Sie reisten nach Rom, er malte sie zig Male, im Falle von Junge Frauen im Garten[1] (um 1921-1923) sogar gemeinsam mit Marthe. Dort sieht die Sache für Letztere nicht gut aus. Renée sitzt im Zentrum des Bildes, lächelt dem Maler in leuchtenden Farben entgegen. Marthe hingegen, in Blautöne gehüllt, ist an den Rand des Gemäldes versetzt, kaum mehr als eine Andeutung. Ihr Blick ist nicht etwa auf den Künstler gerichtet, sondern auf die Rivalin. Sie kämpfte um ihn – und sie gewann! Die lange überfällige Heirat wurde 1925 vollzogen. Wenige Wochen später beging Renée Monchaty unter nebulösen Umständen Selbstmord.

Der Tod war in Bonnards Arkadien getreten. Das Gemälde Junge Frauen im Garten rührte Bonnard – ob aus Angst vor sich selbst oder vor seiner Angetrauten, wissen wir nicht – erst nach Marthes Ableben, in den Jahren 1945-1946 wieder an, um ihm jenen gelblichen Grundton zu geben, den seine Künstlerseele mit Renée assoziierte. In anderen hatte er Renées Gesicht bereits in den Jahren nach ihrem Suizid unkenntlich gemacht und so ranken sich Gerüchte um Werke wie Die Milchschale (um 1919), das durchaus diese seine verstorbene Geliebte und nicht Marthe darstellen könnte. Betrachtet man einige seiner Badezimmerbilder aus dieser Zeit, so kann man sich des Eindrucks des Morbiden nicht erwehren. Gemeinsam mit der doppeldeutigen Pose erhält die Gesichtslosigkeit unversehens eine neue Bedeutsamkeit: Liegt da Bonnards Frau in der Badewanne – oder eine Tote im Sarg?

Die Frage stellt sich umso mehr, insofern Bonnard – man beachte die Differenz zu den Impressionisten – nicht den gesehenen Moment, sondern den Augenblick als bereits in sein Gedächtnis eingeflossenen und von seinem Geist umgeformten festhalten wollte. Seine Gemälde verhehlen es nicht: Da ist weit mehr Bonnard als unmittelbarer Sinneseindruck in ihnen. Und wenn das malerische Arkadien seine Kunstwelt bestimmt, so dürfen wir jenes andere, in getragenen, melancholischen Farben gehaltene Trauer- und Totenreich nicht vergessen, das ebenso zu seiner Vision gehört. Auch der Hades verbirgt sich in Bonnards Arkadien. Man muss nur ein bisschen suchen.

Autor: Arik Jahn

Quellen

[1] Junge Frauen im Garten
Pierre Bonnard, New York u.a.: Parkstone International 2015.
lefigaro.fr/musee-d-orsay-six-choses-a-savoir-sur-pierre-bonnard
phillipscollection.org/whats-your-name-again-the-love-story-of-pierre-and-marthe-bonnard
musee-orsay.fr/pierre-bonnard
escapeintolife.com/pierre-bonnard-the-intimiste
artinfo.com/tonight-at-christies-a-bonnard
lejdd.fr/Musee-d-Orsay-La-face-cachee-de-Bonnard