Die aktuellen Verweise in Kultur und Politik auf den Ersten Weltkrieg, dessen Ausbruch sich in diesem Jahr zum einhundertsten Mal jähren wird, sind zahlreich – ein Krieg, an dessen Ende die europäische Landkarte vor allem in Osteuropa von Grund auf neu geordnet wurde. Ein Großteil der mehrheitlich slawisch geprägten Völker konnte nun ihren jeweils eigenen Nationalstaat errichten. Die Geschichte Osteuropas war bis dahin lange von Fremdherrschaft und Unterdrückung geprägt – als ein Beispiel von mehreren seien an dieser Stelle die drei Polnischen Teilungen am Ende des 18. Jahrhunderts genannt. Die Lücke, die sich nun im einstigen Spannungsfeld zwischen den ehemaligen Großmächten Preußen, Österreich-Ungarn, Russland und dem Osmanischen Reich aufgetan hatte, bot den nötigen Freiraum für eine Neugestaltung. In diesem Zuge ist auch die tschechische Unabhängigkeit in Form der von 1918 bis 1939 und von 1945 bis 1992 bestehenden Tschechoslowakei zu vermerken, denn zum ersten Mal in ihrer Geschichte war die Region um Böhmen nicht mehr fremdbestimmt.

In genau diesem Zeitraum, in dem der europäische Nationalismus seinen Höhepunkt bereits überschritten hatte, widmete sich der tschechische Jugendstilmaler Alfons Mucha (1860 – 1939) seiner monumentalen Werkreihe Das Slawische Epos. Mucha, der bis dahin vor allem für seine Plakate bekannt war, hatte sich das Ziel gesetzt, nicht nur seinem Land, sondern der gesamten slawischen Welt ein künstlerisches Narrativ bereitzustellen, das er in Form von collageartigen Kompositionen präsentierte. Zwischen 1911 und 1928 schuf Mucha zwanzig großformatige Leinwände, auf denen er versuchte, den eigenen Charakter der osteuropäischen Kulturen unter der Einwirkung des Panslawismus auf die Leinwand zu bannen. Wenn seine Serie auch auf Tschechien konzentriert ist, finden sich in ihr darüber hinaus Bilder, die neben allgemeinslawischen auch russische, bulgarische, serbische, kroatische und polnische Themen aufgreifen. Zudem ließ sich Mucha von der baltischen Kultur inspirieren. Mucha verarbeitete im Slawischen Epos dementsprechend neben folkloristischen auch religiöse und historische Sujets aus dem gesamten Gebiet zwischen Ostsee, Mittelmeer und Schwarzem Meer, die sich über einen Zeitraum von über 1500 Jahren erstrecken. Er thematisierte dabei Nationalmythen wie die Einführung der slawischen Liturgie, die die Sonderstellung der östlichen Christenheit darstellt, die Schlacht von Grünwald (1410), bei der das Königreich Polen und das Großherzogtum Litauen gemeinsam die Streitmacht des Deutschen Ordens besiegen konnten, oder die Hussitenkriege (1419 – 1434/1439), die zum einen auf den protestantischen Charakter der Tschechen hinweisen und zum anderen den Kampf um Unabhängigkeit symbolisieren. Weitere Themen sind unter anderem das griechische Kloster auf dem Berg Athos, die Belagerung der ungarischen Stadt Szigetvár (1566) durch die Türken und die Abschaffung der Leibeigenschaft in Russland (1861).

Wie politisch Mucha selbst sein Werk sah, ist schwer zu beurteilen, aber als Nationalepos sollte es laut Mucha nicht nur als Stärkung der eigenen Identität in Abgrenzung gegenüber anderen Völkern verstanden werden, sondern vor allem auch der Völkerverständigung dienen. Eine Idee, die gerade im Kontext des Ersten Weltkriegs besonders hervorzuheben ist. Es ist daher wenig verwunderlich, dass nationalistische Kreise das Werk Muchas nicht ernst nahmen. Auch die Kunstkritik äußerte sich häufig negativ zu der Serie oder strafte sie mit Nichtachtung.

Wenn die Idee einer großslawischen Nation auch eine Utopie blieb, muss sich der Künstler jedoch zunächst und angesichts der geopolitschen Folgen des Ersten Weltkriegs bestätigt gefühlt haben. Eine Region, durch die seit der Teilung des Römischen Reiches die kulturellen Grenzen zwischen Ost und West verliefen, konnte nun selbst über ihr eigenes Schicksal bestimmen. Doch Mucha konnte nicht wissen, welche neuen Katastrophen sich schon bald anbahnen sollten, denn die Zeit der Selbstbestimmung sollte nur kurz währen. Mit der Machtübernahme der Nationalsozialisten in Deutschland kündigte sich bereits der nächste blutige Konflikt an. Den Zweiten Weltkrieg, der mit dem Überfall auf Polen begann und dessen Gräuel sich vor allem auf den Schlachtfeldern in Osteuropa abspielten, musste Mucha zwar nicht mehr miterleben. Allerdings muss die Okkupation der Tschechoslowakei durch das Dritte Reich für ihn ein Fanal gewesen sein. Er selbst geriet im Frühjahr 1939 in die Fänge des faschistischen Regimes, als er von der Gestapo verhaftet wurde. Er starb am 14. Juli 1939 an einer Lungenentzündung.

Was bleibt nun von Muchas Vision der in Vielfalt vereinten osteuropäischen Völker?

Am Ende des Krieges lag Mitteleuropa in Trümmern, und auch dieser Friede brachte dem Kontinent keine einheitliche Zukunft. Die kleineren Staaten Ost- und Teile Mitteleuropas waren erneut der Spielball der Mächte: Im Kalten Krieg fanden sie sich – wenn auch offiziell an der Seite der Sowjetunion – eher zwischen den Fronten wieder, wie sich an den Niederschlagungen der Volksaufstände in Ost-Berlin (1952), Budapest (1956) und Prag (1968) unter der Führung der Sowjetunion sehen lässt. Der Eiserne Vorhang, der den Kontinent quer durch Mitteleuropa spaltete, lichtete sich erst, als die Auflösung des Ostblocks durch den Fall der Berliner Mauer (1989) eingeleitet wurde.

Nach der erneut erlangten Unabhängigkeit blieb nur wenig Zeit, einen eigenen Weg einzuschlagen, bevor sich die Mehrheit der mittel- und osteuropäischen Staaten nach Westeuropa orientierte. Mit der EU-Erweiterung ist es gelungen, diese Region nicht im Kleinen für sich, aber als Teil in Gesamteuropa zu integrieren: Ein fortschreitender Prozess, an dessen Ende auch der Balkan, das Pulverfass, an dem sich der Erste Weltkrieg einst entzündete, befriedet stehen könnte.

Ein Gedanke, der sich gut mit der Vision Muchas verträgt.

Autor: Tobias Baum