Paul Cézanne (1839-1906), ein französischer Künstler des 19. Jahrhunderts, malte in seinen Bildern keine Darstellungen von klassischer Schönheit im Sinne der Alten Meister. Dennoch stehen seine Arbeiten in der Nachfolge des französischen Akademiestils. Seine Gemälde zeigen daher eine neue Interpretation der idealen Schönheit auf. Cézanne, ein Wegbereiter der Moderne, verwendet in seinen Werken verschiedene Kompositionsmittel; dies zeigt deutlich, dass seine Gemälde nicht spontan und unüberlegt entstehen, sondern einen konstruierten, sehr durchdachten Aufbau besitzen. Der Maler verbindet Abstraktes und Natürliches und zeigt, dass es sich bei seinen Gemälden um reine Kunst-Räume und nicht um eine direkte Naturnachahmung (Mimesis) wie im traditionellen Akademiestil handelt.

Cézannes Figuren besitzen darüber hinaus nicht viel vom klassischen Schönheitsideal, das die großen Meister wie Michelangelo (1475-1564) oder Jean-Auguste-Dominique Ingres (1780-1867) repräsentiert haben. Sein Bildpersonal ist nicht im idealen Maßstab oder gar in göttlicher Harmonie gemalt worden, wie es die europäische Tradition seit der Antike vorgab. Die dargestellten Menschen wirken zur umgebenden Natur groß und wuchtig, da ihre Proportionen im Verhältnis zu der sie umgebenden Landschaft nicht passen. Es handelt sich nicht um eine naturgetreue, realistische Abbildung von Menschen in der Natur. Sowohl die Anatomie als auch ein Ausformen der Details waren ihm nicht wichtig, um dem Bild seinen Ausdruck zu verleihen. Seine menschlichen Gestalten sind nur noch Form. Sie passen sich perfekt in eine fest strukturierte Komposition ein.

Schon Ingres fasst 1862 in seinem Gemälde Das Türkische Bad seine schönen Frauen in die ideale Form eines Tondi genau ein. Auch Cézanne reduzierte seine Figuren auf ihre Funktion in der Bildkomposition. Er deformierte sie genau wie Ingres zu Gunsten der Einheit des Bildes und der Komposition. Die Autonomie des Bildes stand bei beiden Malern im Mittelpunkt. Cézannes und Ingres “Figuren” sind nicht an reale nackte Körper gebunden, sondern an die künstlerische Ordnung des idealen Bildaufbaus. Für Cézanne zählt nur das Ganze, die einheitliche, künstlerische Gestaltung seiner Gemälde. Deshalb lässt er seine Figuren undefiniert, unpersönlich und geschlechtslos erscheinen. Diese Vereinfachung des Motivs hat zur Folge, dass der Mensch als individuelle Person für Cézanne ohne Bedeutung ist.

Die Vereinzelung der Menschen, das Für-sich-allein-Stehen jeder Person, steht im Gegensatz zu der verbindenden Einheit der Menschengruppe. Der Betrachter erhält den Eindruck von steifen Gliederpuppen mit inszenierten Haltungen, die fest in dieser künstlichen Stellung ausharren müssen. Der Künstler verwendet bei seinen Menschendarstellungen “Figurentypen”, d. h. er entkleidet seine “Typen” ihrer menschlichen Individualität und reduziert sie wie Michelangelo auf eine Pose. Die Haltungen der Figuren im Werk des Renaissancekünstlers wirken gestellt. Die unterschiedlichen menschlichen Proportionen sollen in ihrer Vielfalt und idealisierten Schönheit der Naturnachahmung das künstlerische Können des Meisters Michelangelo zum Ausdruck bringen. Cézanne zeigt ebenfalls die Vielfalt der Figurendarstellung. Aber im Gegensatz zu Michelangelo sind seine menschlichen Posen nur die reine abstrakte äußere Form. Sie sind keine Ausdrucksträger. Ihre inhaltliche Funktion ist es allein, dass sie sich in die Komposition des gesamten Bildes einfügen sollen, um diesem eine vollendete Schönheit zu geben. Sie ordnen sich den Linien und Strichen des Gemäldes unter und besitzen nur noch einen künstlerischen Ausdruck. Cézanne zeigt, dass alle Kunst zwar ihr Vorbild in der Natur hat, aber allein der Künstler die Macht besitzt, die Natur in die Kunst umzuwandeln und die Gegenstände auf ihre Formen, Flächen und Farben zu reduzieren.

Cézanne konzipierte auf der Grundlage seiner Auseinandersetzungen mit den Bildthemen der Alten Meister seine eigenen Beobachtungen: “Die Kunst ist eine Harmonie in Parallele zur Natur”. Die eigenen Naturerfahrungen werden für ihn zum Inhalt seines Kunstideals. Cézanne wollte mit seiner Malerei seine eigenen Empfindungen verwirklichen und nicht bloß den Gegenstand kopieren. Die ideale Harmonie, die Cézanne anstrebt, wird bei den Maßstäben der körperlichen Proportionen und der Einheit von Körpern und Natur deutlich. Seine Motive sind klassisch. Das Thema des nackten menschlichen Körpers, des Aktes, ist nicht aus der Tradition der Kunstgeschichte zu lösen.

Cézanne wollte ein gesamtes Kunstwerk, eine Einheit, malen, die für ihn die “Schönheit der Malerei” darstellt. Seine individuelle Malweise, die Darstellungen der Figuren und in ihrem natürlichen Umfeld sind als zusammengehörendes Kunstwerk zu betrachten. Er versuchte die Natur in die Kunst umzuwandeln, sie nach den Gesetzen der Malerei wiederzugeben und auf der flächigen Leinwand zu verwirklichen. Er ersetzte den realen, aber auch idealisierten Körper durch “Bildkörper”, die aus den Mitteln der Malerei an Plausibilität gewannen. Dies war eine neue Schönheit, die sich von den Alten Meistern stark unterschied und in der damaligen Öffentlichkeit auf viel Kritik traf. Cézanne unterwarf die natürlichen Formen und Gegenstände, sogar die menschlichen Gestalten konsequent den malerischen Gesetzen der Kunst. Seine Körper waren im traditionellen Sinne nicht mehr schön. Aber seine anschauliche Herleitung dieser Körper mit den Mitteln der Malerei und wie er sie als Bild-Körper auf der flachen Leinwand erscheinen lässt, wird heute als neue und moderne Schönheit angesehen. Ein Ausblick auf die Zeit nach Cézanne verdeutlicht, dass er als Vorbild für den Fauvismus und Kubismus galt und für die nachfolgende Generation ein “Maler für Maler” war.

Texte von Marianne Henke