Lebte Raimondo Puccinelli noch, wäre er am 5. Mai 2014 110 Jahre alt geworden. Als kleines Kind überlebte er 1906 die Zerstörung des historischen San Franzisko durch Erdbeben und Feuer. Wir können uns den “kleinen Raimondo“ gut vorstellen inmitten dem Schutt der kalifornischen Stadt (leichtfertig gebaut auf dem Andreas Graben, einem der am stärksten von Erdbeben gefährdeten Gebiete der Welt). Diese Begebenheit symbolisiert sein Leben als Mensch und Künstler: er hatte ein feuriges Temperament und war dazu ausersehen, hitzige Umstände und Begegnungen mit Menschen durchzustehen.

Die romantische Atmosphäre seines Studios an der Piazzale Donatello in Florenz, in dem er lebte und arbeitete, ist noch lebendig. Sein Vater stammte aus der Toskana, seine Mutter hatte schwedische Wurzeln. “Die schwedische Seite hielt er aber“, wie seine Tochter Rodi sagt, “immer unter der Decke, weil es für einen Künstler besser passte, Italiener zu sein; “aber er hatte ganz deutlich nordische Züge mit seinem Hang zum Tragischen und seiner melancholischen Grundstimmung.“

Puccinelli bewunderte Donatello, Michelangelo, Leonardo da Vinci und Rodin mit der Begründung: “Ich suche nicht nur den Narzismus der idealen Schönheit, sondern vielmehr das Intellektuelle und Geistige, die Offenbarung. Für mich ist die Nacktheit der menschlichen Gestalt nicht allein die traditionelle Nacktheit des menschlichen Körpers, sondern die Nacktheit von Körper und Seele, die Deutung des Geistes, wie sie der Künstler im Körper enthüllt.“

Man sagt, große Schauspieler könnten ihr Publikum durch die Art und Weise, wie sie ein Telefonbuch lesen, in ihren Bann schlagen. Schon bevor wir uns mit seinen herrlichen Kunstwerken befassen, bezaubern uns die Namen seiner Freunde und die Erfahrungen, die er mit ihnen gemacht hat. Da ist zum Beispiel Henri Matisse, der in den 30er Jahren erkannte, dass Puccinelli zu allererst Bildhauer sei und ihn nachdrücklich dazu ermutigte, es auch zu werden und der ihm sagte, an welche New Yorker Galerien er sich wenden sollte. Der indische Dichter Rabindranath Tagore mit seinem langen Bart hatte den 19-jährigen Puccinelli tief beeindruckt, als er ihm in Kalifornien persönlich begegnete. Zu seinem Bekanntenkreis zählte auch der indische Tänzer und Choreograph Uday Shankar, der ältere Bruder von Ravi, und dazu gehörten auch Tänzerinnen wie Martha Graham und Mary Wigman, “die ihm die Welt des Ausdruckstanzes erschlossen.“ Der französische Komponist Edgard Varèse, mit dem ihn eine lebenslange Freundschaft verband, hatte ihm, wie er sagte, “beigebracht, wie Musik gehört werden sollte.“

In San Franzisko teilte er mit Diego Rivera das Atelier, hier traf er auch Léger und Kokoschka. Zusammen mit Orson Welles engagierte er sich gegen den Spanischen Bürgerkrieg. Als es noch nicht Mode geworden war, besuchte er die Ureinwohner Amerikas, ging nach Machu Picchu, als es noch nicht kommerzialisiert war. Nach Italien fuhr er, um Michelangelos makellosen Marmor zu sehen. Von 1955-1956 bereiste er im Auftrag der amerikanischen Regierung als Kulturbotschafter mit Ausnahme von einem Staat alle Länder Lateinamerikas, wo er in den kulturellen Zentren Vorträge hielt über Kunst, begleitet von einer vom Außenministerium organisierten Wanderausstellung seiner Werke. Puccinelli war Professor für Bildhauerei an der Universität von Kalifornien, Berkeley, an der Universität von North Carolina, dem Queens College in New York und der Rinehart School for Sculpture in Baltimore, war aber nie akademisch und auch nicht vom Karriereehrgeiz getrieben.

“Spanisch sprach er,“ wie seine Tochter Rodi sagt, “besser als Italienisch und die englische Sprache beherrschte er meisterhaft. In der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts in Kalifornien aufzuwachsen bedeutete, in einem Schmelztiegel von Ost und West groß zu werden. Hier entstand seine hellwache internationale Offenheit. Von seiner Veranlagung her war er ein nach innen gewandter, introspektiver Mensch, mit einem stark ausgeprägten Gefühl für die Natur und das Spirituelle. Gelegentlich konnte er aber in beängstigenden Zornesausbrüchen explodieren.“

Puccinelli war gut aussehend, litt aber oft unter seiner schlechten Gesundheit. Er hatte helle farbige Augen und einen wildwuchernden Künstler-Haarschopf. Er rezitierte Calderon de la Barca, sang aus Verdis „Aida“ Di quelle piva. Auf Frauen wirkte er sehr attraktiv, liebte aber seine Frau Esther, in die er sich Hals über Kopf verliebt hatte, als er sie tanzen sah. Zwischen 1956-1957 begann – zusammen mit seiner Tochter Rodi – sein langsamer und sporadischer Umzug nach Florenz. Esther, die u.a. bei einem Schüler von Rudolph van Laban Tanz studiert hatte, hatte auch im Studio der berühmten Webkünstlerin und Designerin Dorothy Liebes gearbeitet, zunächst in San Franzisko und dann in New York. Frank Lloyd Wright war einer derjenigen, mit denen sie zusammen arbeitete. In den frühen 60er Jahren zog auch sie dann nach Florenz.

Puccinelli hatte schon während der Zeit des Faschismus in Italien gelebt, aber weil er mit diesem Regime nichts anfangen konnte, war er in seine Heimatstadt San Franzisko zurückgekehrt. Sein Vater war nach San Franzisko ausgewandert, um Abstand zu gewinnen von der für ihn bedrohlichen Figur seines Vaters. Puccinellis Großvater war der Architekt und Ingenieur Giuseppe Puccinelli, der mit Giacomo Puccini eng befreundet war und für einige seiner berühmten Villen die Pläne entworfen hatte. Dieser Großvater war ein Sammler von bibliophilen Erstausgaben, z. B. von Giacomo Leopardi. Er war definitiv eine Berühmtheit und als Vater nicht leicht zu ertragen, Raimondo aber verstand sich mit ihm auf Anhieb blendend.

Seine Tochter behauptet, dass “sich Bildhauer kaum miteinander austauschen.“ Puccinelli schloss aber in Florenz Freundschaften mit Dichtern wie Mario Luzi, Carlo Betocchi und Piero Bigongiari. Puccinelli war ausgesprochen vielseitig, er arbeitete in Bronze, Holz, Marmor, Stein, Ton, terra cotta, rosa Granit und er schuf bezaubernde Figuren von Frauen, die zu Fischen und Ozeanwellen werden; Tänzer und Tänzerinnen; Gesichter, deren Haare im Wind wehen und Zeichnungen von geradezu plastischer Qualität. Von Martha Graham, Mary Wigman und Edgard Varèse gibt es eindrucksvolle Darstellungen. Es gibt ein Foto von Rodi, wie sie als Kind liebevoll das große Varèse Porträt aus rosa Granit umarmt, das sich jetzt in der Columbia Universität in New York befindet. Rodi ist eine einzigartige Zeitzeugin dieses Künstlers mit seiner unablässigen Suche nach der Seele unter der Oberfläche der Dinge.

Rodi macht aufmerksam auf den “unauslotbaren Unterschied zwischen Puccinellis Frühwerk (er hatte schließlich abstrakte Kunst studiert) und dem, was er in seinen späteren Jahren geschaffen hat. Der Unterschied erklärt sich vielleicht aus dem verschiedenen Gebrauch seines Materials – weg von der geometrischen Einfachheit des Granits, des Diorits, des Porphyrs, hin zu den raueren, 'verwitterten' Oberflächen seiner Bronzeskulpturen, die er zunächst in Gips aufbaute, dann bearbeitete, behutsam nacharbeitete, sorgfältig abstemmte unter Zugabe von neuem Gips, den er mit Hämmern und Feilen traktierte, mit Bildhauerwerkzeug oder irgendetwas anderem, das gerade griffbereit war, mit Küchenmessern und Beilen. Wieder gab er Gips hinzu, meißelte in ihn hinein, verätzte die Oberfläche, gab wieder Gips hinzu, entfernte hier oder dort etwas. Nach der Gipsform kam dann das Gießen in Bronze nach dem “Verlorenen-Wachs-Ausschmelz-Verfahren“ – nicht etwa dem meistens verwendeten Ton, was einfacher gewesen wäre. Etwa Urlaub zu machen, war für ihn unvorstellbar und bedeutungslos.

Eine wichtige Auswahl seiner Werke wird im Deutschen Tanzarchiv in Köln aufbewahrt. In Fresno, Kalifornien, befindet sich seine ungewöhnliche >Mutter und Kind< Skulptur. Puccinellis Enkel, der Komponist und Tenor Giovanni Biswas, sagt hierzu: “Das ist einige der wenigen Skulpturen in denen mein Großvater gleichzeitig eine Geschichte des Leidens als einen historischen und als einen universalen Akt zu erzählen scheint. Das erste, was mir hier auffallen würde – auch wenn ich nicht wüsste, dass diese Skulptur 1940 entstanden ist (wie viel Leid, wie viele Tragödien suchten damals die Welt heim, was für Kriege, was für eine Gewalt) - , wäre das Bewusstsein des Tragischen. Ich spreche ganz bewusst von dem 'Sinn des Tragischen' und nicht von dem 'Gefühl von Trauer.“

Seit kurzem erhält Rodi nicht wenige E-Mails über ihren Vater, mit Fragen über ihn, mit Vorschlägen und Komplimenten, gleichsam Glückwünsche zum 110. Geburtstag des Künstlers. In Deutschland gab es unlängst auf Schloss Cappenberg eine Retrospektive mit seinen Werken. Seit Hans-Jörg Modlmayr und seine Frau Hildegard 1974 einige Werke von Puccinelli kauften und damit begannen, auf sein Werk aufmerksam zu machen, erfreut sich seine Kunst in Deutschland einer großen Aufmerksamkeit. Puccinellis Tochter Rodi ist für ihn so etwas wie seine Agentin.

“Für mich ist Kunst Humanismus, Erkenntnis und Ausgeglichenheit. Sie ist der Atem des Lebens selbst. Wir müssen das Leben achten. Der Künstler muss an seinen Auftrag glauben und er darf nicht das suchen, was leicht ist, sondern muss das anstreben, was von Dauer ist.“ Vor vielen Jahren hatte er geschrieben: “Was wir heute unbedingt brauchen, ist die Erneuerung unserer Visionen und unserer menschlichen Ideale.“ Ganz genau das.

Ubersetzung von Tanzarchiv.

Text by Francesca Joppolo