Im Jahr 1830 befindet sich ein Mann um die 70 Jahre in der näheren Umgebung eines gewaltigen Vulkans, von dessen Anblick er fasziniert ist. So beginnt dieser Mann, ein Künstler, der seine Bilder selbst mit “der vom Zeichnen Besessene” unterschreibt, in mehreren Serien diesen Berg – Wahrzeichen und Sinnbild eines ganzen Landes – festzuhalten. Sein Name: Katsushika Hokusai (1760-1849), einer der bekanntesten Ukiyo-e-Künstler Japans. Ukiyo-e kann im Deutschen mit “Bilder der fließenden Welt” übersetzt werden. Dieses Genre der japanischen Druckgrafik macht den Künstler international berühmt. In seinen Kunstwerken, die teilweise in einer hohen Auflage erscheinen, behandelt er “das Thema des heiligen Vulkanes in staunenswerten Variationen, seine Prachtlandschaften in mächtigen Farbtönen, die den Fuji oder berühmte Wasserfälle zum Gegenstande haben […] Tierbilder von verblüffender Lebendigkeit” (1). Ein leidenschaftlicher Naturalist, der die Dinge so darstellt, wie sie ihm erscheinen, und so den Übergang vom Realismus zum Impressionismus in der europäischen Kunst wesentlich mitbestimmen wird.

Zwischen 1830 und 1832 fertigt Hokusai erstmals eine Serie von Ukiyo-e mit dem Titel Fugaku sanjūrokkei (Die sechsunddreißig Ansichten des Berges Fuji) an. Der Fuji ist hier von der Vorderseite, also von der Hauptstadt Japans mit dem damaligen Namen Edo aus zu sehen. Da die Serie ein unerwartet großer Erfolg ist, erscheinen noch Ende des Jahres 1832 weitere Druckgrafiken mit der gleichen Motivik – insgesamt soll es eine Serie von 100 Ansichten werden, die jedoch in diesem Umfang nie zustande kommt. Tatsächlich werden nur 10 weitere Bilder vom Berg Fuji publiziert, sodass die beiden Serien zusammen 46 Blätter umfassen. Auch die zusätzlichen zehn Drucke zeigen den Fuji überwiegend von der östlichen Seite. Die Ansichten des Berges Fuji sind ästhetisch anspruchsvolle Kompositionen mit ausgesprochen feinen Farbzusammensetzungen. Landschaftsbilder gehören zum traditionsreichsten Genre in Japan: “Ukiyo-e Landschaftsdruckgrafiken kombinieren Elemente der traditionellen Landschaftsmalerei mit den europäischen Techniken des festen Standpunkts und der Fluchtpunkt-Perspektive, die in der Mitte des 18. Jahrhunderts in Japan eingeführt worden war” (2).

Hokusai selbst lebt an schätzungsweise 90 verschiedenen Orten. Somit bereist er innerhalb seines langen Lebens viele Orte rund um Edo. Er malt die Landschaft rund um den höchsten Berg Japans – den Fuji (auch Fujisan genannt) –, welcher eine geologische Sensation darstellt. Im Werk Hokusais erscheint der Berg realistisch, wobei er in den verschiedensten Farben erstrahlt, teilweise auch surreal und nicht der Wirklichkeit entsprechend; seine Form bleibt jedoch immer gleich, so dass der Betrachter den Berg auf den ersten Blick wieder erkennt: Ein mächtiger kegelförmiger Koloss erhebt sich gen Himmel unter einer Decke aus Schnee. Der heute noch aktive Vulkan Fuji ragt mit fast 4000 Metern Höhe aus dem Pazifischen Ozean. Übersetzt bedeutet Fuji “einmalig”. Der als heiligster Berg Japans bekannte Fuji ist ein Ort, der bereits seit vielen Jahrhunderten verehrt, aber auch wegen seiner Ausbrüche gefürchtet wird. Er gilt aufgrund seines sehr symmetrischen Vulkankegels als einer der schönsten Berge der Welt. Hokusai gibt den Berg zu jeder Tageszeit, zu jeder Jahreszeit, aus verschiedenen Entfernungen und Blickwinkeln wieder – mal nur als großartiges Monument, mal im Hintergrund als Kulisse für ereignisreiche Szenen, mal muss man ihn regelrecht im Bild suchen, oder die Szene spielt sich direkt am Berghang ab: “Der Fuji ist der höchste und bekannteste Berg in Japan und seine elegante und monumentale Form inspiriert zu religiöser und kultureller Verehrung seit Jahrhunderten. In der Serie wird der Berg aus verschiedenen Blickwinkeln, zu verschiedenen Wetterbedingungen und in unterschiedlichen Kompositionen dargestellt – manchmal dominiert er das Bild, ein anderes Mal, kommt ihm eine kleine, aber bedeutende Funktion zu” (3).

Weltweit am bekanntesten ist die Druckgrafik Kanagawa oki nami ura (Die große Welle von Kanagawa oder auch Die Woge) aus dem Zyklus Die sechsunddreißig Ansichten des Berges Fuji. Es gehört zu den Meisterwerken der modernen Kunst des 19. Jahrhunderts und ist das berühmteste japanische Kunstwerk schlechthin. In dieser dramatischen Szene, veranschaulicht Hokusai genau den Moment, bevor drei Boote samt Mannschaft im hochaufschäumenden Meer von einer gewaltigen Welle verschlungen werden. Im Kontrast zu diesem ereignisreichen und aufgewühlten Vordergrund befindet sich im Hintergrund der nur aus der Ferne zu sehende, Ruhe ausstrahlende Fuji. Der bedrohlich aussehende klauenartige Schaum der Welle korrespondiert mit dem Schnee auf dem Gipfel des Berges. Bei genauerer Beobachtung wird deutlich, dass Hokusai den fraktalen Aspekt der Natur sehr gut erkennt und hier wiedergibt. Somit besteht die gewaltige Welle aus mehreren verkleinerten Kopien ihrer selbst. Die Unmittelbarkeit der Szene schafft ein Gefühl der drohenden Katastrophe, und der Betrachter stellt sich sogleich den nächsten Moment vor, in dem die Welle über den Booten samt Insassen zusammenstürzt. Die Bewegung wird durch die Wirbel der kleineren Wellen verstärkt. Dieses dynamische Bild spiegelt anschaulich die elementare Kraft des Meeres wider und verdeutlicht, warum es die westliche Kunstwelt so sehr in seinen Bann zog.

Anfangs verbreiten sich die Werke Hokusais nur in Japan, doch durch europäische Händler gelangen seine Druckgrafiken auch in den Westen und inspirieren dort in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts Künstler wie Vincent van Gogh, James McNeill Whistler, Gustav Klimt und Paul Klee. Darüberhinaus beeinflussen sie die Kunstrichtung des Jugendstils. So kann als ein bekannter Beleg für den Einfluss des Japonismus im Werk westlicher Künstler auf van Goghs Bilder u.a. mit dem Berg Fuji verwiesen werden. Der Postimpressionist, selbst nie nach Asien gereist, ist doch so sehr von den Drucken der japanischen Künstler wie Hokusai beeindruckt, dass er diese in seinem eigenen Werk verewigt, wie beispielsweise in dem Porträt Le Père Tanguy (1887, Paris, Musée Rodin). Auch im literarischen Bereich wird das Werk Hokusais, allen voran der Berg Fuji, reflektiert, wie im Gedicht des Lyrikers Rainer Maria Rilke, der eine Hommage auf Hokusais Serien über den wohl berühmtesten Berg im Fernen Osten schreibt: “Sechsunddreißig Mal und hundert Mal hat der Maler jenen Berg geschrieben, weggerissen, wieder hingetrieben (sechsunddreißig Mal und hundert Mal) (4).

Texte von Marianne Henke

Fußnoten
(1) Julius Kurth, Der Japanische Holzschnitt, München, 1922, S. 130
(2) Sarah Thompson, The World of Japanese Prints. “Philadelphia Museum of Art Bulletin”, Bd. 82, n. 349/350 (Winter-Spring 1986), S. 40
(3) [Katsushika Hokusai, Fugaku sanjūrokkei] (4) Rainer Maria Rilke, Der Berg