Kein einziges Bild ist so tief in der westlichen Ikonografie verwurzelt wie jenes von Mutter und Kind. Ob nun nährend oder trauernd – die Madonna inspirierte dabei einige der größten Erfolge in der bildenden Kunst der Vergangenheit, während die Beziehung von Vater und Kind kaum zelebriert wurde. In jenen Fällen, in denen sie tatsächlich in der Literatur oder in der Kunst auftritt, wird sie typischerweise im Sinne eines Konfliktes gesehen, in einer Rivalität aus dem Streben nach Macht oder Liebe heraus. Der gewaltige Roman Ulysses von James Joyce umfasst eine bemerkenswerte Ausnahme. In Anlehnung an die Handlung von Homers Odyssee, in der unter anderem die Suche eines Sohnes nach seinem Vater geschildert wird, stellt die Variante von Joyce den idealistischen jungen Mann Stephen Dedalus dar, sowie den 38 Jahre alten Leopold Bloom, die ziellos durch die Straßen Dublins des 16. Juni 1904 streifen. Stephen hatte kürzlich seinen eigenen alkoholsüchtigen Vater zurückgewiesen, der die Standpunkte der Familie, Nation und Tradition verkörpert, welche die intellektuelle sowie künstlerische Entwicklung seines Sohnes bremsen. Bloom hingegen ist der letzte männliche Abkömmling einer jüdischen Familie, die aus Ungarn nach Irland ausgewandert ist. Sein Vater beging Selbstmord, sein eigener Sohn starb im Säuglingsalter von 11 Tagen.

In einem klassischen Sinn betrachtet, verknüpft Joyce die Geschichte der Suche eines Sohnes nach einem (Ersatz-)Vater mit der Suche eines Vaters nach seinem Sohn. Die Wege der beiden Männer kreuzen sich bei Tage und laufen schließlich in der Nacht zusammen, als Stephen von Bloom aus einem Bordell im Rotlichtviertel, auch bekannt als „Nighttown“, gerettet wird. Wenn es auch kein Bonding entsteht, so gibt es immerhin einen flüchtigen Moment zärtlichen Mitgefühls zwischen den beiden. Eine Art intuitives und unausgesprochenes Wiedererkennen, bevor die beiden Männer getrennte Wege gehen. Warum das Vater-Sohn-Thema so häufig in der irischen (sowie auch in der jüdisch-amerikanischen) Literatur vorkommt, hat hier keine unmittelbare Bedeutung. Die Aufnahme des Themas hilft allerdings dabei, die jüngsten Werke der in Dublin geborenen Künstlerin Mary A. Kelly, „Father & Child“, zu kontextualisieren. (Die Künstlerin vollendete auch ein Foto- und Videoprojekt unter dem Titel „Mother & Child“ im Jahre 2008.) Es war Zufall, dass sie beobachten konnte, dass viele Väter ihre elterliche Liebe zelebrierten, indem sie sich die Portraits ihrer Kinder auf ihre Körper tätowieren ließen.

Kelly hat eine besondere Empfindsamkeit für Ausgegrenzte, Ausgestoßene und Geschädigte und hat wiederholt einen tiefgründigen Sinn für die Poesie des Alltäglichen demonstriert. In einer fortlaufenden Serie mit dem Titel „I believe help my unbelief“ gedenkt sie dem „Angels Plot“ in Dublins Friedhof Glasnevin, wo 50.000 totgeborene (und daher ungetaufte) Kinder begraben liegen. Es sind vor allem die spontanen Gaben in Form von Spielzeug, Plastikblumen und provisorischen Grabmälern, welche immer wieder ihre Aufmerksamkeit erregen. Der solchen Objekten anhaftende Pathos ist offensichtlich aber kaum einzigartig in Kellys Arbeit. In ihren zurückhaltenden Fotografien sind selbst die banalsten Motive mit einer rührenden Menschlichkeit behaftet. Für die Reihe unter dem Titel „Asylum“, welche zunächst 2005 zusammen mit einer Videoinstallation ausgestellt wurde, dokumentierte sie die Spuren der Frustration und der Bedürftigkeit, welche von Geisteskranken in einem leeren Krankenhausgebäude zurückgelassen wurden.

Graffiti-ähnliche Nachrichten waren in Türen und auf Kopfkissen eingeritzt und gekritzelt, von Zigaretten stammende Brandflecken ätzten sich in Polster und Linoleum wie Hieroglyphen der Verzweiflung. Lebenslange Hoffnung, Apathie und Warten scheinen hier eingraviert zu sein. Die Künstlerin selbst spricht von dem „Ehren dieser hartnäckigen Zeichen des Überlebens in diesen Bildern“. Ähnliche Überlegungen resultierten aus dem Videokurs, welchen sie in Portlaoise, Irlands einzigem Hochsicherheitsgefängnis, angeboten hatte. Dort entdeckte sie die fast für unmöglich gehaltenen Beweise einer geteilten Menschlichkeit in den schmalen Gefängniszellen, die durch eine Art Flur mit Gitterwerk miteinander verbunden sind. Nachdem sie das Vertrauen und den Respekt ihrer Schüler gewonnen hatte, erhielt Kelly von vielen die Erlaubnis, ihre Nest-ähnlichen, innerhalb der grauen Gefängniswände geschaffenen Zufluchtsorte zu dokumentieren. Jede Zelle ist in einer strengen frontalen Symmetrie fotografiert und zeigt den Türrahmen, der all jenes offenbart (und buchstäblich einrahmt), was wir von diesen intimen Rückzugsgebieten sehen dürfen. Gefangen zwischen Neugier und Voyeurismus ist der Betrachter für all jene Details sensibilisiert – Fotos und Plakate, Decken und Kissen, Bücher und Blumen – mit denen Irlands gefährlichste Kriminelle ihre extreme, oft lebenslängliche Isolation zu individualisieren bemühen.

In seiner forensischen Objektivität erinnert „The Landing“ vom Jahre 2003 manchmal an Lucinda Devlins „Omega Suites“; dennoch meiden die Bilder jede Polemik und Politik zugunsten einer lyrischen Anerkennung geteilter Bedürfnisse. Durch das zunutze machen des umgebenden Lichtes wird ein gedämpfter, sepiagetönter Effekt erschaffen, der diese Dimension verstärkt. „Als ich durch den Flur ging, war alles sehr dunkel“, schrieb die Künstlerin, „und die Zellen waren offen. Und die Seitenbeleuchtung war in den Zellen selbst überall angeschaltet. Und es war fast wie in einem Mietshaus, wie in einer ganzen Gemeinde auf der Straße“. Häusliche Rituale, verstärkt durch ihr eigenes Bemuttern dreier Kinder, spielen ebenso eine wiederkehrende Rolle in Mary A. Kellys Werken: das Ausbreiten der Tischdecke, eine Lammkeule zubereiten, das Kind füttern. In einer früheren Videoinstallation von 1998 unter dem Titel „Baby Blue“ wird das Weinen eines Neugeborenen in einer fortlaufenden Sequenz in Schleife gezeigt und so zu einer ersten Aufzeichnung der Hilflosigkeit und unerfüllten Bedürfnissen. Viele jener Themen der Ernährung und des Rituals verschmelzen in einem laufenden Projekt mit dem Titel „Through the Looking Glass“.

Es war während ihrer Arbeit in der Erwachsenenerziehung, als Mary A. Kelly zufällig auf jenes Phänomen stieß, das sie zu der Fotoserie mit dem Titel „Father & Child“ führte. Das Wissen darüber, dass einer ihrer Schüler sich ein Portrait seines entfremdeten Sohnes auf seine Brust tätowieren ließ, verleitete sie dazu, über den Platz einer Vater-Sohn-Beziehung in der Kunst und im gegenwärtigen Ritual nachzudenken. Besonders faszinierte sie die Vorstellung, dass der menschliche Körper wie eine „Leinwand“ für Projektionen von Bedürfnissen und Sehnsüchten benutzt wurde, welche seltener ihren Ausdruck in der altertümlichen und komplexen Ikonographie von Mutter und Kind zu finden sind. Kelly dokumentierte die Ergebnisse ihrer ersten Begegnung in „Kevin“ (2008/12), wo das Portrait des Sohnes unterhalb des Mottos „Life is pain“ („Leben ist Schmerz“) seinen Platz findet. Während sie dieser Thematik nachging, wobei sie von einem Modell den weiteren vorgestellt wurde, entwickelte Mary A. Kelly auch eine schärfere Wahrnehmung für die Kunst des Tätowierens. Wenn einige ihrer Modelle von einer ausgestoßenen Gruppe kamen, waren die in ihre Haut inskribierten Bilder aber doch alles andere als derbe Abbildungen, die einst mit Seemännern, Bikern oder Kriminellen assoziiert wurden. Das Bild eines Kinderkopfes in „Robert“ (2010/12) offenbart zum Beispiel zart nuancierte Schattierungen, die an eine Aquarelltechnik erinnern.

Trotz der Wiederkehr von Motiven wie Engelsflügeln, Rosen und Kruzifixen, unterscheiden sich Tattoos in dem unverkennbaren Stil eines jeden Tätowierers, der stolz darauf ist, diese zu erschaffen. „Ink“, „Gun“ und „Parlour“ aus dem Jahre 2010/12 unterstreichen die Tatsache, dass das Tätowieren schon vor langer Zeit viel von seiner verruchten Atmosphäre eingebüßt hat und längst in den Mainstream eingeflossen ist. Die Tattoos der Stars auszuspionieren und ihre Bedeutung zu entziffern, ist bereits zu einer Art Sport unter den Fans geworden. Nebst einer virtuellen Enzyklopädie aus Zeichen, Gelöbnissen und Andenken trägt Fußballheld David Beckham die Namen seiner vier Kinder Brooklyn (1999), Romeo (2002), Cruz (2005) und seiner Tochter Harper (2011). Als er für Real Madrid spielte, ließ der Mittelfeldspieler den meistgefeierten Tätowierer Londons, Louis Molloy, für einen Spezialauftrag nach Spanien einfliegen.

Die jüngste Ergänzung zu seiner wandelnden Bildergalerie (zumindest zu der Zeit dieser Aufzeichnung) wurde aber von dem Virtuosen Mark Mahoney aus Los Angeles kreiert. Es zeigt Beckham als Jesus, der durch Engel vom Grabe emporgehoben wird, die die Gesichter seiner drei Söhne tragen. Dennoch ist die klassische Mutter-Kind-Beziehung hier auf seltsame Weise auch vorhanden: nicht weit vom Engels-Trio entfernt, nimmt Beckhams Frau Victoria eine Brigitte Bardot Pose ein. Weniger berühmte Väter ehren oft die Madonna, wie wir in Mary A. Kellys „Isaac 2“ (2010/12) sehen. In „Arthur“ (2010) ist das Motiv das eines kindlichen Handabdrucks. In einer anderen rührenden Variante des Themas gedenken „Isaac“ (2010/12) und „Dad“ (2011/12) einem verstorbenen Vater. (In einer Zeit, in der ein Tattoo das Ende der Ausbildung eines Seemannes markierte, war das am meisten verbreitete Motiv – oft in einer Herzform inskribiert – das der „Mutter“.)

Wenn wir über Kellys Bilder schweifen, tritt eine Art Ansammlung von Farben, Zeichen, symbolischen Zusammenhängen und anatomischen Platzierungen hervor. Die Platzierung eines Tattoo, ob es nun entblößt oder wie üblicherweise verborgen ist, hat viel mit der Botschaft zu tun, die übermittelt werden soll. Entsprechend der vielfältig variierenden Platzierung der Tattoos, die sich vom Rücken über Schultern und Handgelenk, Brustkorb, Unter- oder Oberarm ziehen können, divergieren auch Mary A. Kellys Kompositionen. An Stelle der steifen, frontalen Rahmung in der „Landing“ („Flur“)-Serie, passen sich die Motive in der „Father & Child“-Reihe in Größe und Platzierung dem Namen und Bild eines Kindes an.

Ganz gleich von welchem Winkel aus die Fotografie gemacht wurde, das Gesicht des Vaters ist niemals vollends enthüllt. Nur in dem hypnotisierenden 13-minütigem Video mit dem Titel „David“ (2011/12) sehen wir tatsächlich den Vater zärtlich mit seinem kleinen Sohn spielend. In den Fotografien selbst mögen wir nur einen ausgestreckten Arm sehen, so wie in „Ian“ und „Sammy“ (2010/12). Beide Bilder erinnern sonderbar an eine Kreuzigung, während der grelle Graffitihintergrund den Moment emphatisch in die Gegenwart ruft. Die Pose erweitert ebenso den kulturellen Kontext des „Hinterlassens von Spuren“, wobei ein Mensch die Welt um sich herum ausmisst, hervorhebt, individualisiert oder schmückt – seinen eigenen Körper einbezieht und zu einem lebenden Schrein macht. (In diesem Kontext könnte man auch an die Zigaretten-„Spuren“ denken, die im Linoleum und in der Polsterung der „Asylum“-Serie zurückgelassen wurden).

Mary A. Kellys Œuvre kann in einer Tradition sozialer Anthropologie gesehen werden, aber auch als Teil einer kontinuierlichen Erkundung der comédie humaine, übertragen von einer fesselnden, wenn auch manchmal verstörenden Schönheit.

Text von David Galloway

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