Harding Meyers zentrales Thema bleibt die Auseinandersetzung mit der menschlichen Physiognomie, der er in seiner aktuellen Ausstellung mit dem Titel features durch die Umsetzung fotografischer Arbeiten einen neuen Ansatz hinzufügt.

Seine solitär in Malerei eingebundenen Portraits hat Harding Meyer in den vergangenen fünfzehn Jahren konsequent weiterentwickelt. Seine Bildvorlagen entstammen vornehmlich dem breiten Spektrum der Medien: Zeitschriften, Internet und Fernsehen wählt er zum Ausgangspunkt seiner Bilder. Diese Vorlagen überführt Harding Meyer vom medialen Stereotyp in einem langen Bildentstehungsprozess, Schicht um Schicht hin zum angestrebten Individuum : dem Bild als Bild. Er rekonstruiert eine Biographie, die Biographie der medialen Gesichtswerdung, aber das Ziel ist die Schaffung von Anonymität als Identität.

Zum ersten Mal nun gibt Meyer einen Einblick in seine fotografische Tätigkeit, deren Ursprung in seiner Sammlung fotografischer Abbildungen von Gesichtern liegt. Zu "Features" zeigt er eine Serie von Fotografien collagenhafter "Skulpturen", auf denen er Elemente aus verschiedenen Gesichter vermengt. Mit Stecknadeln befestigt er ausgeschnittene Gesichtsfragmente auf gesichtslosen Styroporköpfen, fügt mal ein Glasauge hinzu, stattet sie schlussendlich auch mit einem Hut aus und lässt so Köpfe entstehen, die menschlich und artifiziell zugleich anmuten. Hier trifft das rechte Auge eines Häftlings auf die knallroten Lippen eines Models oder auch grob gepixelte Nasen auf feinste Wimpern. Diese Objekte fotografiert er sowohl mit dem iPhone, als auch mit analogen Kameras.

"Zentrales Thema der Bilder Harding Meyers ist die intensive und nicht-schematische Auseinandersetzung mit der malerischen Darstellung des menschlichen Gesichts. Indiz dieser intensiven Beschäftigung sind die subtilen Unterschiede in der malerischen Umsetzung jedes einzelnen Motivs. Die in sich einheitlichen, über Wochen und Monate hinweg erarbeiteten Einzelbilder offenbaren im direkten Vergleich ihre im doppelten Sinn mehrschichtige Herkunft. Ursprünglich sind die Gesichter, die als Grundlage der Malerei der meisten Bilder Harding Meyers dienen, den Medien entnommen. Kataloge und Magazine, Film und Fernsehen bilden den Pool, aus dem sich der Maler bedient. Diese Ursprungsbilder besitzen in sich nur selten eine künstlerische Durchbildung, sie sind vielmehr anonyme Massenware. Aus dieser Bilderflut greift Harding Meyer die Gesichter heraus – an sich bereits ein signifikanter Akt. Das Gesicht, über das sich wie kein anderer Teil des Körpers die Individualität eines Menschen vermittelt, wird aus dem massenmedialen Gebrauch zurück in einen Kontext individueller Wirkung überführt. Sie tragen in diesem Moment der Dekontextualisierung die Spuren ihrer medialen Herkunft, die sich noch dadurch verstärken kann, wie sie im Speziellen von Harding Meyer festgehalten werden. Die digitalen Fotokameras und analogen Videokameras, die er zum Festhalten der bewegten Bilder verwendet, verstärken Eigenheiten der technischen Bildsysteme. Ein dem Fernsehen entnommenes Bild ist oft von horizontalen Streifen begleitet, die dem zeilenweisen Aufbau des Fernsehbildes im Halbbildverfahren entspricht. Bilder aus dem Computer haben wiederum eine pixelartige Struktur und auch gedruckte Vorlagen sind nicht völlig homogen. Hinzu treten Artefakte, die sowohl durch die Kameras erzeugt werden, als auch bewusste Manipulationen der Bildstruktur durch den Maler.

Harding Meyer arbeitet gezielt mit diesen Veränderungen der Bildvorlagen, wenn er sie auf die Leinwand überträgt. Mit der Übertragung auf die Leinwände eines seiner einheitlichen Formate, erhalten die Gesichter formal eine entscheidende Gemeinsamkeit: den kompositorischen Beschnitt. In den allermeisten Fällen zeigen die leicht horizontal orientierten Gemälde die Gesichter von der Stirn abwärts bis knapp unterhalb des Kinns. Dieses Vorgehen verschafft den Gemälden eine unübersehbare stilistische Kohärenz. Zudem, und das ist entscheidender, erscheinen die Gesichter nah.

Diese Nähe produziert eine Intimität, von der aus leicht zu Spekulationen über die seelische Befindlichkeit übergegangen werden kann. Mit Blick auf die Tradition der Portraitmalerei, zu der sich Harding Meyers Arbeiten in Bezug setzen lassen, wird häufig angemerkt, dass die horizontale Orientierung unüblich, die vertikale hingegen die Regel sei. Tatsächlich entspricht die Vertikale vielmehr der Kopfform. Sie entspricht aber nicht dem menschlichen Blick, denn die benachbarte Lage der Augen bildet ein horizontales Blickfeld. Der Blick als Konstituent des auch aus der Entfernung wirksamen zwischenmenschlichen Dialoges selbst einander unbekannter Menschen darf als relevant für die Bilder von Gesichtern überhaupt angesehen werden.

Die angesprochene Nähe und Individualität sind nicht nur Ergebnis dieses kompositorischen Eingriffs, des Beschnitts, sondern auch Ergebnis des malerischen Prozesses, dem Harding Meyer nicht nur die Motive, sondern auch sich selbst unterwirft. Der schichtenweise Aufbau ist allen Bildern gemein, doch die angesprochenen Eigentümlichkeiten der Vorbilder werden nicht wie bei vielen anderen Malern neutralisiert, sondern wirken sich auf den jeweiligen Farbauftrag mit Pinseln und Spachteln aus. Die Bilder unterscheiden sich somit nicht nur durch das jeweilige Motiv, sondern auch durch den Duktus.

Obwohl dieses Verfahren zu nuancierten Differenzierungen in der malerischen Oberfläche führt, entsteht durch diese Vorgehensweise eine Ähnlichkeit, wie sie sich vor allem in der Portraitfotografie beobachten lässt. In der Portraitfotografie besteht eine enge über den Blick etablierte Verbindung zwischen Modell und Fotografen. Hierbei hinterlässt der Fotograf im fertigen Portrait nicht nur seine Spur in Form einer technisch vermittelten Handschrift. In den Gesichtern unterschiedlicher Personen, die ein und derselbe Fotograf fotografiert hat, lässt sich eine Ähnlichkeit im Ausdruck erkennen. Nicht so sehr mit der Kamera, sondern mit dem Fotografen entsteht während des fotografischen Aktes eine Beziehung und der empathische Bezug des Modells zum Fotografen spiegelt sich im Gesichtsausdruck des Portraitierten wider. Dieser in der Portraitfotografie relativ leicht zu beobachtende Effekt gilt aber allgemein. Die Spiegelung des Ausdrucks ist ein Phänomen, das sich allgemein beobachten lässt und im ersten Moment unwillkürlich, aber nicht zufällig ist. Bereits im Säuglingsalter etabliert sich diese Wechselwirkung über das mimische Spiel, das innere Befindlichkeiten nicht nur ausdrückt, sondern auch verändert. Das klassische Beispiel für diese Wechselwirkung ist das Lächeln, das beginnend beim Kind auf die Menschen in der Umgebung überzuspringen vermag. In dieser Zeit entsteht auch die Fähigkeit, einen Menschen wiederzuerkennen und die frühe visuell prägende Erfahrung ist die beständige Nähe von Gesichtern, sowohl der Mutter als auch der anderen Angehörigen, allein schon durch das Tragen auf dem Arm.

Während der jeweiligen langen Dauer der bildnerischen Produktion trägt Harding Meyer sein eigenes Einfühlungsvermögen an die von ihm adoptierten Bildvorlagen heran. Vergleicht man die Vorlagen mit den vollendeten Bildern, lässt sich eine leichte Änderung im Ausdruck feststellen, die sich dem mehrwöchigen Blick des Künstlers in das Gesicht auf der Leinwand verdankt.

Harding Meyers Vorbilder entstammen, wie erwähnt, eher der anonymen Fotografie, die für Gebrauchszwecke, etwa in der Mode, gern auf stereotype Formeln und Formen zurückgreift. Innerhalb ihres Gebrauchszusammenhangs ist der Zweck schnell erkannt und das Modell, aber auch der Schauspieler, sind als Träger einer Rolle und des Images sichtbar. Die im konventionellen Sinne schönen Modelle der Werbung und der Mode bleiben mit ihrer Erscheinung dieser Funktion unterworfen. Harding Meyer löst diesen Funktionszusammenhang auf und ermöglicht den durch Malerei vermittelten Zugriff auf diese Schönheit. Anders als das Hässliche steht das Schöne dabei aus kulturkritischer Sicht immer unter dem Generalverdacht der manipulativen Wirkungsmacht, sie versteht sich in diesem Sinne per se als schöner Schein. Aus dieser Sicht wirken die Bilder mit Gesichtern auf den Bildern Harding Meyers geradezu provokativ, da sie die Möglichkeit von Schönheit ebensowenig negieren, wie seine Malerei die Möglichkeit von Malerei. Das klingt paradox, bezieht sich aber auf die historische Situation, die den reinen Ausdruck unter Ausschluss der dinglichen Welt in den Mitteln allein suchte, Malerei zur Illustration von Theorien nutzte oder nur noch als ironischen Kommentar auf das Ende der Kunst ertrug.

Die vielschichtigen Arbeiten Harding Meyers bilden untereinander immer wieder neue Konstellationen mit den überlebensgroßen Gesichtern von Bildern kleineren Formats und den fast schon überwältigend großen Gesichtern Erwachsener.

Um das ganze Spektrum der Möglichkeiten aufzuzeigen, können in diesem Zusammenhang zwei herausgegriffen werden. Eines dieser beiden Bilder (Abbildungshinweis) zeigt einen Jugendlichen, der sich in einem nach hinten fluchtenden Raum an die Wand gelehnt hat. Nicht nur der Raum unterscheidet dieses Bild von den übrigen Bildern, die keinen kontextuellen Hinweis mehr auf ihre Umgebung liefern. Wenn die Gesichter nicht von Vornherein formatfüllend sind, oder vor neutralen Fond auftreten, entfernt Harding Meyer die Details. Aber in diesem Bild sind der Raum und der sonst nicht sichtbare Körper halsabwärts präsent: allein es fehlt der Kopf und somit das Gesicht! Das Fehlen des Kopfes muss bei einem Maler, der sich intensiv mit dem Gesicht auseinandersetzt, zu denken geben. Das Bild könnte als Experiment verstanden werden, das die Bedeutung von Kopf und Gesicht zur Klärung der Identität einer menschlichen Figur unterstreicht, auch wenn Physis, Gestik und Haltung durchaus eigentümliche Formen bei verschiedenen Menschen annehmen und Rückschlüsse zulassen. Zudem gemahnt das Bild daran, dass es in allererster Linie nicht um das Sujet, sondern um eine in der Malerei sichtbare Auseinandersetzung geht. Doch hinsichtlich der fast unmöglich zu bestimmenden Identität des jungen Mannes, in dem nicht ungewöhnlichen, aber fremden Raum, bleibt festzuhalten, dass auch die Gesichter auf den anderen Bildern eigentlich die Gesichter Unbekannter bleiben, und der Verzicht auf Titel tut sein übriges. Selbst wenn sich einzelne Gesichter als bekannte Schauspieler identifizieren lassen, heißt das noch nicht, dass die Person erkannt wird. Schließlich reihen sich auch die im Einzelfall sogar charakteristischen Portraits bekannter Personen ein in die Gemeinschaft der Namenlosen, die mit ihrer Anonymität auf die Namhaften unter ihnen ausstrahlen, die sie gewissermaßen in ihr Kollektiv einbinden.

Ein Titel, beziehungsweise ein Name, führt zu dem zweiten Bild, Dieter. Warum hat das Bild, im Gegensatz zu den meisten anderen, einen Titel, wer ist dieser Dieter und heißt Dieter auch wirklich Dieter? All das sind banale aber wichtige Fragen und im Grunde stellt sich auch hier, genauso wie bei dem kopflosen jungen Mann, die Frage nach der Identität. Würden die Betrachter wirklich mehr über all die Gesichter, beziehungsweise die Menschen hinter ihnen, erfahren, wenn ihnen akkurat Namen beigegeben wären? Namen und Titel können durchaus sinnvolle und sogar sinnstiftende Ergänzungen sein, sie tragen aber andererseits immer auch die Gefahr in sich, das Unbekannte im magischen Akt des Benennens einfach nur zu bannen und den Blick auf das Wesentliche zu verlieren – dass man nicht wirklich weiß, wer der Andere ist und der Andere im Miteinander überhaupt nur dann erträglich leben kann, wenn er sich unbestimmt verändern darf, anstatt immer nur ein bestimmter Mensch zu sein.

Mit dieser Offenheit geht genauso einher, sich immer wieder ein neues Bild vom Anderen zu machen und sich dafür viel Zeit zu lassen, im besonderen Fall unter Verwendung von Leinwand und Ölfarbe."  
Thomas W. Kuhn

Galerie Voss
Mühlengasse 3
D-40213 Düsseldorf
Tel. +49-211-13 49 82
Fax +49-211-13 34 00
info@galerievoss.de
www.galerievoss.de