Claudia Rogges jüngstes Fotoprojekt beschäftigt sich mit opulenten Tisch-Arrangements, die das klassische Vanitasstillleben der Malerei in einem neuen Licht zeigen. Das Thema des Werdens und der Vergänglichkeit, der Schönheit und des Verfalls, der Begierde und der Sünde, welches die Künstlerin bereits in ihrem Bilderzyklus Ever After eindrucksvoll verarbeitete, wird in der neuen Serie mit dem Titel Lost in Paradise fortgesetzt. Dabei durchlaufen die Stillleben eine Transformation, indem sie in Materialien wie Wachs, Wasserglas oder Gelatine getaucht werden und dadurch eine neue Beschaffenheit verliehen bekommen.

Die einzelnen Etappen, die jedes Stillleben durchläuft, werden von der Künstlerin fotografisch festgehalten, so dass jedes Motiv sowohl in seiner unberührten Form als auch in seiner Metamorphose und in seinem abschließenden Verfall vorliegt. Durch das Medium der Fotografie erschafft die Künstlerin ein regelrechtes Vanitas-Festmahl, welches in Rogges bekannter Manier aufwändig aus mehreren Fragmenten zu einer Art Fotocollage zusammengefügt wird.

Claudia Rogge ist innerhalb der zeitgenössischen Kunstszene eine Ausnahmeerscheinung. Nicht nur, dass sie alleine mit einem gläsernen Lastwagen durch Europa reiste, nein, sie präsentierte erstaunten Passanten in Brüssel, Paris oder München nackte, auf Knien ruhende, vornübergebeugte Männer, fein säuberlich übereinandergestapelt. Masse in Form gebracht, auf Form beruhend und als kompakte Installation transportabel für Europa. Die Kunst wird zum Menschen gebracht. Er wird mit ihr konfrontiert und ihm bleibt nur noch die Möglichkeit weiterzugehen oder stehen zu bleiben. Viele sind stehen geblieben und haben das Gespräch mit der Künstlerin gesucht. Behörden zeigten sich einsichtig, vergaßen Gesetze und Regeln, gaben sich gesprächsbereit und neugierig.

Die Erfahrung, wie Masse auf Masse reagiert, hat sie zu neuen Werken animiert. Zu Fotografien, die mit Hilfe des Computers Menschen klonen. Was ist Klonen? Was ist Klonen nicht? Der Begriff Klonen beschränkt sich auf die Verdopplung eines Lebewesens. Er beinhaltet keinen Eingriff in das Erbmaterial einer Zelle (Gentechnik). Klonen und Gentechnik sind zwei Methoden der Biotechnologie und werden in Zukunft wahrscheinlich kombiniert, um Lebewesen, die man zunächst gentechnisch verändert hat, zu kopieren.

Es ist der Kopiervorgang am Computer, der aus der Einzelfotografie eines Menschen, eine Ansammlung der immer gleichen Person, in der immer gleichen Haltung, im immergleichen Gewand, ein Muster, eine Reihung erstellt, deren Faszination sofort den Betrachter greift. Letztendlich geht es hierbei um nichts weniger als die Ursprünge der Abstraktion und ihre Folgen. Das Ornament, das hier durch die Masse entsteht, ist in dieser pointierten Lesart die konsequente Fortführung der Abstraktion, die in der modernen Kunst unterschiedliche Darstellungsarten aufweist. Der Computer, als vom Menschen konstruierte Maschine, folgt dem Befehl des Menschen und reiht Körper um Körper aneinander. Das Gehirn des Menschen ist in der Lage, im Gegensatz zum Computer, aus rudimentären Strukturen Muster zu erkennen. Eine Eigenschaft der Intuition oder der Phantasie? Anscheinend ist es dem Menschen aber auch ein dringendes Bedürfnis überall dort, wo Uneindeutigkeit herrscht, Muster zu suchen. Welche Bedeutung für die Musteridentifikation hat die menschliche Wahrnehmung? Hat das Bewusstsein eine „Mustersucht“? Und welche Bedeutung kommt dann dem Brechen von Mustern zu?

Es sind diese Fragen, die sich beim Anblick dieser Fotografien stellen. Das Individuelle, das Abbildungen- zumal von Menschen- zu verheißen scheinen, wird einem scheinbar banalen, sinnentleerten Zweck, dem Ornament untergeordnet. So geht das eigentliche, Authentische, Individuelle in der allgemeinen Idee, im Ornament, im Stilisierten, Übergeordneten, so geht das Besondere im Allgemeinen unter. Der Mensch wird selbst zum Muster, zum Ornament. Gleichzeitig stellt sich die Frage nach der Richtigkeit der begrifflichen Einordnung. Handelt es sich hier wirklich um Muster oder Ornament? Ist es nicht vielleicht doch eher Masse oder sind es nicht nur einfach Formen? Doch es scheint, dass wir mit dem Wort Muster am ehesten begrifflich klar kommen. Herr Mustermann, Verhaltensmuster, mustergültig. Alltagsbegriffe, für jeden schnell einsortierbar.

Siegfried Kracauer hat als soziologische Kategorie den Begriff „Massenornament“ eingeführt. Michael Müller bezieht sich in seiner Untersuchung „Die Verdrängung des Ornaments“ darauf. Er schreibt: „Die Funktion des Massenornaments hat der Faschismus weiterentwickelt und zur Unterdrückung der Massen eingesetzt. Die Aufgabe des Massenornaments war es nun (…), der Masse ihr Ausdruckssymbol zu verschaffen – es zu sein.“(1) Claudia Rogges künstlerische Auseinandersetzung gilt nicht einem so eingeschränkten Feld von Massenideologie. Aber eine solche Ideologie lässt überdeutlich werden, was geschieht, wenn die Masse selbst zum Inhalt wird, wenn der Einzelne seine Bedeutung nicht mehr durch sich selbst erfährt, sondern nur mehr als Teil eines Ganzen, dessen Inhalte und Ziele dann gar nicht mehr hinterfragt werden. Der „Sinn für das Gleichartige in der Welt“ sei so gewachsen, sagt Walter Benjamin, dass unsere Wahrnehmung „es mittels der Reproduktion auch dem Einmaligen“ abgewinne(2)

Und einmalig sind sie alle, die Protagonisten der Claudia Rogge. Jede Haltung, jede Geste, jedes Gewand ist individuell ausgesucht. Jedes Foto wird auf seine „Klonfähigkeit“ geprüft. Erst dann kommt der Computer zum Einsatz. Das Format, das letztendlich auch der Reproduzierbarkeit Einhalt gebietet, ist bewusst gewählt. Der Masse werden Grenzen gesetzt. Die Arbeiten gibt es nur in einer Dreierauflage. Das macht sie beinahe zum Unikat. Erste Reaktionen gab es schon auf der Arte Fiera in Bologna. Zum ersten Mal gezeigt, war die erste Auflage gleich vergriffen, eine große Ausstellung in Italien festgemacht. Doch was fasziniert an der Teil-Rückenansicht einer jungen Frau mit hochgestecktem Haar? Ist es die Faszination für einen Stil, dessen Aufgabe nicht mehr darin besteht individualistische Einzelheiten zu schaffen, sondern vom Bedürfnis der Menschen, der Konsumenten, sich dem Einmaligen hinzugeben?

Die Menschen tendieren in der Regel dazu, sich nicht unmittelbar mit etwas auseinanderzusetzen, sondern vermittelt. So bleibt die Distanz gewahrt, die uns davor bewahrt, die Dinge, die zuweilen beunruhigende Wirklichkeit der Welt an uns heranzulassen. In der vermittelten Wiedergabe von Realität sind „Flüchtigkeit und Wiederholbarkeit“ angelegt, wie Benjamin schreibt:(3)

Genau dies aber ermöglicht es uns, uns nicht mit der Realität auseinandersetzen zu müssen. Aber möchte Claudia Rogge Realität vermitteln oder ist es nicht eher so, dass es hier um die Ästhetik des menschlichen Körpers in der Vervielfältigung geht, sei er bekleidet oder unbekleidet? Dabei ist ihr auch das Spiel mit den Kontrasten, mit scharfen Abgrenzungen von Haut und Gewand wichtig. Die oftmals skurrilen Ergebnisse machen schmunzeln: wie kann ein männlicher Halsansatz eine so eindeutige Lichtlinie im Bild ergeben? Warum verschwindet das Individuum nicht hinter dem Individuum? Und warum fallen einem immer wieder diese Ohren in den Blick? Die hohe Präsenz, die gravierende Eindringlichkeit belegen die Genauigkeit der künstlerischen Vorgehensweise, die Claudia Rogge in ihre Werke impliziert. Um ein Werk zu solchen Mustern werden zu lassen, muss es auf eine „formale Regel“ reduziert werden. Diese „formale Regel“ bestimmt Claudia Rogge durch die festgesetzte Körperhaltung und/oder die Kleidung, respektive das Unbekleidet-sein. Der Habitus der abgebildeten Personen weckt im Betrachter die Erinnerung an eigene Bewegungen, Körperhaltungen, die nicht von ungefähr kommen, sondern Grunddimensionen des sozialen Orientierungssinnes sind. Körperhaltungen und Gefühle entsprechen einander. Die Analyse der Körpersprache hilft den anderen besser zu verstehen. Die Wissenschaft hat diesem Forschungsbereich nicht umsonst so viel Platz eingeräumt.

Bestimmte Haltungen und Bewegungen, die Claudia Rogge in ihre Bilder einfriert, machen diese Fotografien zu „eye catchern“ für den Betrachter. Das Spiel mit der Wahrnehmung, das die Künstlerin mit scheinbar leichter Hand betreibt, äußert den Wunsch die Dinge räumlich und zeitlich näherzubringen. Die Entschälung des Sujets aus seiner vorgegebenen Hülle, die Installation einer neuen Aura ist die Signatur einer Wahrnehmung, die in den Denkraum eindringt. „Wenn Sie regungslos verharren, betrachten die Leute Sie“, schreibt Robert Doisneau, der Fotograf. Vielleicht ist es das, was Claudia Rogges Menschenbilder so anziehend macht. Die Regungslosigkeit, die sich mehrfach abbildet und dadurch zur Bewegung in der Ruhe wird. Geistessturm vor Bildersturm. Vielleicht sollte man dahin kommen, dass man sich dieser Kunst annähert, wie man sich einem Stilleben annähert. Bei Vermeer, so schreibt der Philosoph Paul Virilio, entspricht die lebendige Welt einem Stilleben. Bei Claudia Rogge scheint das ebenso, mit eben jenem kleinen Unterschied, dass es die lebendige Welt des schönen Scheins ist, die sie zur Kunstikone erhoben hat. In einem Zeitalter der sich selbst überlassenen Massenmedien hat sich der Schritt vom Notwendigen zum Überflüssigen vollzogen. Claudia Rogge lenkt den Blick zurück auf eine ästhetisch hochwertige Hochglanzfotografie, deren Menschenmasse uns das Individuum in uns zurückgibt. Also, alles in Ordnung und zwar in schönster Ordnung.

1. Zitiert nach Peter Gruhne, Herrschende Muster, Wiesbaden 1996, S. 16 nach Michael Müller: „Die Verdrängung des Ornaments. Vom frühen Verhältnis von von Architektur und Lebenspraxis“, FfM. 1977, S.52f
2. Walter Benjamin „das Kunstwerk im Zeitalter seiner technischen Reproduzierbarkeit“, Seite 479 ff
3. Perter Gruhne „Herrschende Muster“, Wiesbaden 1996, Seite 11

Alles in Ordnung von Marianne Hoffmann

Claudia Rogge geboren in Düsseldorf in 1968. 1986-1992 Studium der Kommunikationswissenschaften in Berlin und Essen.

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