Mit der monographischen Ausstellung Allan Sekula: Okeanos im TBA21–Augarten widmet sich Thyssen-Bornemisza Art Contemporary dem künstlerischen Vermächtnis Allan Sekulas (USA, 1951–2013). Ausgehend von umfassenden Werkgruppen aus der TBA21 Sammlung präsentiert und kontextualisiert diese Schau die umfangreichen Recherchen und künstlerischen Arbeiten Sekulas zum Thema der Weltmeere, die den flächenmäßig größten Anteil an der extrem fragilen und zunehmend gefährdeten Hydrosphäre darstellen. Okeanos wurde in Zusammenarbeit mit der Fundació Antoni Tàpies in Barcelona, Spanien entwickelt.

Seit den 1970er Jahren untersucht Sekula, der in der kalifornischen Hafenstadt San Pedro aufwuchs, in seinem künstlerischen und theoretisch-kritischen Werk die geopolitischen Strukturen und prekären Arbeitsverhältnisse, die auf den Ozeanen, im internationalen Schiffsverkehr und in industrialisierten Superhäfen vorherrschen. Als einer der Ersten beschrieb er die lange Zeit unbeachtete Funktion der ozeanischen Handelswege bei der Verteilung von Gütern und Waren in den zunehmend globalisierten Weltwirtschaftssystemen. Die Schifffahrtsbranche, ein vermeintliches Relikt der industriellen Revolution, bewegt heute mehr als 80, vielleicht sogar 90 Prozent der weltweit erzeugten Verbrauchsgüter und nimmt somit nicht nur einen zentralen, sondern zugleich stark deregulierten und belasteten Schauplatz der Globalisierung ein. Sekulas analytische Beobachtungen und fotografische und filmische Aufzeichnungen des Seehandels, der Schiffsfahrt und der Meeresräume dokumentieren, einfühlsam und selektiv, die prekären sozialen Rahmen- und Arbeitsbedingungen der in den maritimen Industrien arbeitenden AkteurInnen und zeigen eindringlich die Fragilität der ozeanischen Ökosysteme auf.

Die meisten Meereserzählungen sind Allegorien von Autorität. Allein in diesem Sinne schon ist Politik nie weit entfernt

(Allan Sekula)

Allan Sekula: Okeanos bringt eine breite Auswahl der bedeutendsten Werke des Künstlers zusammen. Der Titel der Ausstellung referenziert aktuelle kritische, ökologische Denkmodelle, die, mit Bruno Latour der Figur der Gaia eine zentrale Stellung einräumen, jene Göttin der Erde, die den Anbeginn der Schöpfung markiert. Ihr Sohn Okeanos hingegen herrschte der Sage nach über die Ozeane und Gewässer und repräsentiert als solcher das symbolische Gegenbild der land- und erdbezogenen, wissenschaftlichen Diskurse über die Umwelt. Mit Sekula wird ein Stück weit der notwendige Paradigmenwechsel in Richtung eines planetaren ökologischen Einheitsmodells unterstrichen.

Für TBA21 markiert diese Ausstellung die thematische Verknüpfung vergangener und geplanter Programmpunkte. Die beiden letzten Ausstellungen im TBA21–Augarten haben aktuelle Muster von Migration thematisiert – ein Kontext, in dem Ozeane und insbesondere das Mittelmeer, Sinnbilder für unerbittliche politische Unruhen und humanitäre Katastrophen sind. Zudem bilden die Ozeane und die ökologische Destabilisierung der Weltmeere den programmatischen Schwerpunkt von The Current, dem der Ozeane gewidmetem, fortlaufenden Forschungsprojekt von TBA21. Die Denkansätze und künstlerische Artikulationen, die aus den jüngsten Expeditionen und Recherchen im Rahmen von The Current resultieren, werden erstmals unmittelbar nach Okeanos in der Ausstellung Tidalectics im TBA21–Augarten öffentlich zur Diskussion gestellt. Sekulas Vermächtnis, seine pointierten Untersuchungen der prekären Realitäten des globalen Seehandels und des deregulierten „maritimen Raumes“, dienen als eindringliche Fallstudien, die die Zusammenhänge der sich auf unseren Meeren ereignenden ökologischen, politischen und sozialen Urgenzen begreiflich machen.

Vor seinem frühzeitigen Tod 2013, galt der Theoretiker, Fotohistoriker, Filmemacher und Pädagoge als wegweisend für Diskurse zur kritischen Fotografie. Sekulas umfangreiche und höchst politische Arbeit auf all diesen Gebieten zielte u.a. auf Fragen zur Bildwahrnehmung, Realismus, Dokumentarismus und auf die Systematik und die Organisation von Archiven ab. Sein Œuvre diskutiert nachhaltig die Defizite der Dokumentarfotografie – das Medium seiner Wahl – und erinnert daran, dass „das Genre einiges zum Spektakel, zu retinalen Ermunterung, Voyeurismus, Terror, Neid und Nostalgie beigetragen hat, jedoch nur wenig zu einem kritischen Verständnis der sozialen Welt.” Eine Fotografie ist für Sekula immer „eine unvollständige’ Äußerung,” der stets der Verlust an Spezifität droht und die abhängig ist von der Matrix an Bedingungen, aus der sie hervorgeht. Sekulas kritische Interpretation der fotografischen Praxis und seine Aufmerksamkeit für die kontextuale Beschaffenheit des Bildes werden besonders in seinen großen, mehrteiligen Werkzyklen deutlich, deren Entstehung jahrelange Recherchen und Reisetätigkeit umfasst. Die oftmals in Kapitel unterteilten Arbeiten sind meist mit Texten und begleitenden Publikationen verknüpft. Diese breit angelegten Forschungsprojekte machen aus Sekulas Œuvre eine eingehende Studie und ein umfangreiches Archiv der Meere, nicht nur weil sie komplexe wirtschaftliche, politische, sozialgesellschaftliche und ökologische Zusammenhänge erfassen, sondern auch weil sie vermögen das Wissen über und das Verständnis der maritimen Räume an sich neu zu formen.

Eine zentrale Position in der Ausstellung nimmt eine Auswahl aus Sekulas Magnum Opus Fish Story (1988–95) ein. Dieses ausufernde, in neun Kapitel unterteilte und aus Fotografien und begleitenden Texttafeln bestehende Werk umfasste ursprünglich eine Ausstellung sowie eine Publikation. Thematisch widmet sich die Arbeit der Frage der Machtkonzentration im Seehandel und zeichnet die weltweiten Konstellationen aus Häfen, Schiffen, Werften und Containertransportsystemen auf. Wie in nahezu allen Arbeiten Sekulas ergänzen einander essayistische Texte und Fotografien zu einem an philosophischen, historischen und literarischen Referenzpunkten reichen Werk.

Darüber hinaus werden die beiden Filme Tsukiji (2001) und Lottery of the Sea (2006) gezeigt. Tsukiji beschreibt einen Tag auf einem großen Fischmarkt in Tokio und verfolgt die verschiedenen Verarbeitungsschritte, die der teuer gehandelte Tunfisch durchläuft – vom Einfrieren zum Schneiden und schließlich seiner Versteigerung. Lottery of the Sea hingegen verknüpft eine Vielfalt an unterschiedlichen Erzählsträngen, die in der griechischen Mythologie oder dem amerikanischen Kino wurzeln, und erforscht so die Geschichte und die Darstellung des Lebens auf See und den aktuellen Bedingungen der Seefahrt. Der Film thematisiert (und entlehnt seinen Titel) Adam Smiths vielzitiertem Konzept der “lottery of the sea”, welches das Seefahrtsleben mit dem Glücksspiel vergleicht und Besitz (Schiffe, Waren, etc.) dem menschlichen Leben gleichsetzt.

Zwei Fotografien aus der Serie Black Tide / marea negra (2002–03) dokumentieren die Nachwirkungen der Prestige Ölpest aus dem Jahr 2002, bei der ein sinkender Öltanker vor der galizischen Küste, 81.000 Tonnen Rohöl verlor und schwere Umweltschäden in den Küstenregionen Frankreichs, Spaniens und Portugals verursachte. Large and small disasters (Islas Cíes and Bueu, 12-20-02) (2002–03) besteht aus drei Bildern, die das Öl an verschiedenen Oberflächen und an verunglückten Tieren darstellt und Self-portrait (Lendo, 12-22-02) (2002–03), welches Sekula bei einer Entsorgungsdeponie in Lendo, zeigt.