Jede Form ist das erstarrte Momentbild eines Prozesses. Also ist das Werk Haltestelle des Werdens und nicht erstarrtes Ziel.

(El Lissitzky)

Und ich habe immer gesagt, dass Du mit jeder Skulptur ausdrücken können solltest, dass es eine sein könnte, obwohl sie noch nicht fertiggestellt ist. So sollte eine Skulptur aussehen. Sie muss eine gewisse Beziehung zur Wirklichkeit haben.

(Isa Genzken)

Isa Genzken ist eine der einflussreichsten Figuren der zeitgenössischen Kunst. Ihr ikonographischer Gebrauch alltagsbestimmender Materialen provoziert beim Betrachter einen Perspektivenwechsel und löst die Bedeutungshoheit der von ihr eingesetzten industriell hergestellten Werkstoffe auf. Ihr exzentrischer Ideenreichtum ignoriert die etablierten Gestaltungsgesetze, überschreitet denbildhauerischen Erfahrungshorizont und bringt uns immer wieder an die Grenzendes Rezeptionsvermögens. Unvermittelt locken Isa Genzkens transmutierende Konstruktionen den Betrachter aus der komfortablen Überlieferung und konfrontieren ihn mit der ureigenen Frage nach der Ich-Verlassenheit.

Die Schauspieler bilden eine eigene komplexe Werkgruppe. Benjamin Buchloh spricht ihnen, die uns vor „die unheimlichsten Begegnungen mit uns selbst,als Subjekte der fortschreitenden Formen des Konsums“ stellen, in einem Vortrag an der Städelschule in Frankfurt eine weitere bedeutende Einheit im Gesamtwerk von Isa Genzken zu. Der Prototyp für die zitathaften Figuren ist in ihrer Installation OIL im Deutschen Pavillon auf der Biennale in Venedig 2007 zu finden, wo sie als fliegende Astronauten im Raum schweben. Seither ist eine zunehmende Anzahl von Mannequin-Figuren, wie wir sie üblicherweise in Schaufenstern aufgestellt sehen, in verschiedene skulpturale Konstruktionen eingebunden worden.

Frauen-, Männer- und Kinderfiguren stehen, sitzen und liegen in verschiedenen Momenten des Be- oder Entkleidetseins, die Gesichter hinter Masken, Netzen, Brillen und Sprühlacken teilweise oder ganz verborgen, fast immer kopfbedeckt,manchmal mit Banderolen und Klebebändern verschnürt, allein, als Paar oder in kleinen Gruppen einander zu- oder abgewandt, wie auf einem Gemälde, einer Bühne oder einem Filmset im Raum.

„Schauspieler“ benennt Isa Genzken ihre Figurengruppen, die auf den ersten Blick den Charakter skulptural festgehaltener Szenen besitzen.Genzkens Anmerkung, sie manchmal auch „meine Puppen“ zu nennen, verleiht den Momentaufnahmen gleichermaßen privaten Charakter und fügt den universellen auch selbstdarstellerische Aspekte hinzu. Der gewählte deutschsprachige Titel Schauspieler weist in Abgrenzung zum englischen Wort „actor“, welches dashandlungsorientierte Tätigsein des Darstellers beschreibt, auf den freien Handlungsspielraum hin, in dem, unter Einhaltung der Regie, Spannung und Lust ebenso Raum bekommen wie das Bewusstsein des Andersseins.

In einem Gespräch mit Wolfgang Tillmans sagt Isa Genzken zu ihrem Verständnis von Skulptur allgemein: „Sie muss einen gewissen Realitätsbezug haben. Also nicht irgendwas Versponnenes oder gar Ausgedachtes, so daneben und höflich.[...] eine Skulptur ist eigentlich wie ein Foto – sie kann zwar verrückt sein, sie muss aber immer noch so einen Aspekt haben, den die Realität auch hat.“

Die Schaufensterpuppen erfüllen wie ihre Bekleidungen in der scheinbar zufälligen Auswahl des Objekts und der Indifferenz ihrer Vereinnahmung das Grundkriterium des Readymades. Isa Genzken transformiert den Kunstkörper zum Kunstkörper, indem sie, nicht ohne Humor, den für eine wahrnehmende Identifizierung auf denersten Blick geschaffenen künstlichen Körper aus der strukturellen Erstarrung löst und seiner schnellen Wiedererkennbarkeit – dem Reiz des Augenblicks– durch eine tranceartige Inszenierung affektiv getönter Innenwelten einelängere Betrachtungszeit entgegensetzt.

Auch in ihren neuen Wandarbeiten verbindet Isa Genzken die für ihr Gesamtwerk bestimmende Radikalität einer Readymade-Ästhetik mit frühen Momenten derkomplexen Kunstgeschichte des 20. Jahrhunderts. Auch hier vereint sie Moderne und Anti-Moderne in ihrer Arbeit. Und wieder findet sie im haltlosen Chaos der Gegenwart verbündete Gegner eines sentimentalen Pessimismus in der Zeit des Ersten Weltkriegs.

In der Verwendung konfektionierter Tapes verweist Isa Genzken auf Piet Mondrian und die „neuen Gestaltungsideen“ der von ihm 1917 mitbegründeten niederländischen De-Stijl-Bewegung, aber auch auf Theo van Doesburg, der sich in seinen „konkreten“ Werken auf die geometrisch abstrakte Reduktion von Linien und Flächen verpflichtete, um zu einem auf Funktionalität beschränkten Purismus zu gelangen.

Ich schuf sie ohne Absicht, ohne jede andere Absicht, als Ideen abzustoßen.

(Marcel Duchamp)

Isa Genzken verbindet in ihren neuen Arbeiten die kontinuierliche Rasterung des Motivs mit dem dynamischen Effekt der Diagonalen. Sie erweitert die Realisation ihrer Collagen mit einer radikalen Indifferenz im Umgang mitmaschinell hergestellten Materialien, wie es für das Readymade typisch ist,dessen Schlüsselwerk „The Fountain“ von Marcel Duchamp, im gleichen Jahr, 1917,entsteht, in dem die De-Stijl-Bewegung gegründet wird. Die neuen Wandarbeitenprovozieren so mit einer dringlichen Wirklichkeit, die, freigemacht von jeder Absicht, die Idee eines in der Arbeit entstehenden, den gegenwärtigen Verwirrungen unsentimental begegnenden Lebensgefühls.

Beton als amorphe graue Masse ohne Identität ist der Grundbaustoff derzeitgenössischen Baukultur. Seit Mitte der 80er Jahre verwendet Isa Genzken Stahlbeton für ihre Arbeit, sowohl für Außenskulpturen wie für Innenplastiken.Sie gießt Formen daraus, die sie nach dem Aushärten ohne etwas zu verändern nackt stehen lässt. Manchmal setzt sie ihnen eine Antenne auf oder klebt ein Absperrband darum.

Der Konstruktion und der Realisation geht immer die Imagination voraus. Sie ist das entscheidende Moment der Arbeit und fließt über den Entwurf und den physikalisch-chemischen Prozess in die Plastizität ein.

Die anlässlich der Skulptur Projekte Münster 1987 in Form eines Doppeltorsaus Stahlbeton realisierte Außenskulptur ABC löst, der Architekturästhetik El Lissitzkys folgend, die Form eines Bibliotheksgebäudes in einer durchscheinend elegant fortgeführten Rohbaukonstruktion auf.

Auch Isa Genzkens Betonskulpturen für Innenräume besitzen trotz ihrer Aura der Monumentalität eine Zartheit, die sie auch zerbrechlich aussehen lassen. Ihre Freitreppen, die sie „Leonardo“ nennt, erscheinen wie Modelle zu unvollendeten Bauprojekten. Es sind vielmehr selbstständige Skulpturen, die der dauerhaften Härte ihres Materials Unfertigkeit oder Verfallenheit gegenüberstellen. Sie provozieren unser Vorstellungsvermögen, weil sie uns an ein Architekturelement großen Ausmaßes erinnern, das in seiner Unterdimensionalität von der räumlichen Tradition befreit ist, wodurch seine innere Dynamik freilegt wird.

Auch jetzt deutet Isa Genzken unsere eingefahrenen Wahrnehmungs- und Empfindungsgewohnheiten um, wenn sie einen alltagsbestimmenden Werkstoff durch eine Art künstlerisch-alchemistischen Prozess so verändert, dass der amorphe Zustand des erkalteten Betons eine Transparenz erlangt, die den Betrachter in eine (seine) Innenwelt führt.