Die Geschichte der Fotografie fußt auf mythischem Grund: Als hätte, wie einst schon beim Evangelisten Johannes, um die Mitte des 19. Jahrhunderts das Licht in der Finsternis geschienen, und als hätte diese es erneut nicht ergriffen. Es war am 6. Januar 1839, als die französische Zeitung „Gazette de France“ von einer Erfindung berichtete, die „allen Theorien über Licht und Optik Hohn sprechen“ sollte. Wenige Wochen zuvor war es dem Pariser Maler Louis Daguerre gelungen, über den Umweg einer „camera obscura“ Sonnenlicht auf eine lichtempfindliche Oberfläche einzuschreiben. Eine der großen Revolutionen der Moderne. Fortan ließ sich materialisieren, was genau betrachtet eigentlich unsichtbar war: das natürliche Sonnenlicht. Alle Vorstellungen über Zeit, Raum, Welt und Realität schienen neu geschrieben werden zu müssen.

Doch war das, was die Pioniere der Fotografie mit ihren Kameras festhielten, wirklich schon die Realität? Aus der Distanz von fast zweihundert Jahren betrachtet können Zweifel aufkommen. Sieben Jahre vor Daguerre hatte ein Dichter und Naturforscher in ein abgedunkeltes Sterbezimmer am Weimarer Frauenplan ein merkwürdiges Vermächtnis geflüstert: „Mehr Licht!“ Es waren die letzten Worte des großen „Lichttheologen“ Johann Wolfgang von Goethe. Über mehr als dreißig Jahre hinweg hatte sich der mit der Beschaffenheit jenes Lichtes auseinandergesetzt, das die Pioniere der Fotografie kurze Zeit später zum Zeichenstift ihrer Kunst erheben wollten. Immer wieder hatte Goethe in seinen Schriften auf den göttlichen Ursprung dieses physikalischen Phänomens verwiesen. Denn Licht war für den Dichter nicht einfach nur Produkt elektromagnetischen Strahlung. Im Anschluss an den Neuplatonismus manifestierte sich im Physischen vielmehr immer auch das Metaphysische, und hinter dem Licht der Welt erstrahlte ein „Urlicht“ von der Ewigkeit her.

Für einen Denker wie Goethe sollte es daher keinerlei weiteren Erkenntnisgewinn bringen, wenn man, wie zuvor bereits Isaac Newton und hernach eben Louis Daguerre, das Licht in einzelne Wellen, Teilchen oder Farben zerlegen wollte. Für den Universalisten war bereits in der Gesamtheit des Lichts alle weitere Erkenntnis enthalten. In einen gegen den sezierenden Geist der Aufklärung gerichteten Brief aus dem Jahr 1800 an Friedrich Schiller schwärmte Goethe daher von eine Frühzeit, „wo man den Mond nur empfinden wollte“, jetzt aber wolle man ihn sehen und vermessen.

Die bald beginnende Ära der Fotografie hat Goethe nicht mehr erlebt. Es lässt sich nur spekulieren, was der Weimarer „Lichttheologe“ im Angesicht einer Technik gesagt hätte, die die Welt anscheinend nur weiter entzaubert hat, indem sie das Licht unentwegt geteilt und seziert und die Natur in Formen, Objekte und Phänomene zergliedert hat – in Farben, Flächen, Schattierungen; in Häuser, Menschen und Landschaften. „Sehr oft“, so indes Goethe, „stellen die Figuren nur Begriffe dar. Es sind symbolische Hilfsmittel. Hiroglyphen Überlieferungsweisen, welche sich nach und nach an die Stelle der Natur setzen und die wahre Erkenntnis hindern anstatt sie zu befördern.“

Genau an dieser Stelle will die Gruppenausstellung „Mehr Licht!“ in die Dunkelheit und gegen gängige Vorurteile opponieren. Die ausgewählten internationalen Fotokünstler setzen Lichtzeichen für eine Re-Poetisierung der Wirklichkeit. Mit ihren vielfältigen abstrakten Bildern wollen sie nicht mehr das einzelne Phänomen der Wirklichkeit sondern „die ganze Natur“ in den Fokus nehmen, So wird „Mehr Licht!“ zu einer kultur- und generationsübergreifenden Suche nach Goethes metaphysischem Urlicht.

Der 1968 in Brandenburg geborene Stefan Heyne etwa steht mit seinen oftmals großformatigen Bildern für eine Fotografie, die ganz ohne Abbild auskommen will. Heyne zeigt eine lichtdurchflutete Unendlichkeit, in der sich alle Symbole und Formen aufgelöst haben. Ähnlich die Ansätze von Hubertus Hamm (1950) und Inge Dick (1941). Während Hamm die Brechungen des Lichtes auf gewellten Spiegeln beobachtet, beschäftigt sich Dick in ihren auf Minimal und Konkreter Kunst fußenden Langzeitprojekten mit den Wandlungen des Lichts im Verlauf von Stunden oder ganzen Jahreszyklen. Der in Cleveland/ Ohio lebende Joseph Minek wiederum beschäftigt sich mit der Frage, durch welche chemische Porzesse sich dieses Licht auf beschichtetem und lichtempfindlichem Papier einfangen lässt. Mittels Tonern, Entwicklern und sonstigen Fotochemikalien untersucht er die in der Kunst lange Zeit vernachlässigten fotografischen Prozesse und Materialien. Shirine Gill (*1951) sowie die 2001 verstorbene Marta Hoepffner versuchen dem Licht eine poetische Form abzugewinnen. Aus Lichtstrahlen formt Gill Symbole – Codes –, die wie Buchstaben oder Tags auf dem Fotopapier erscheinen. Mit einer vordergründigen Simplizität veranschaulicht sie den visuellen wie intellektuellen Reiz des Sehens. Hoepffner dagegen, eine einstige Schülerin Willi Baumeisters, hat aus Licht abstrakte Kompositionen geformt. „Lichtformen, Schattenformen und Zwischenformen können zum Inhalt eines Bildes werden“, so lautete das Credo dieser außergewöhnlichen Künstlerin. Eine Überzeugung, die tief in der Lichtgläubigkeit der Avantgarden wurzelt. Diese schließlich wird zum zentralen Thema des 1974 in Prag geborenen Jan Tichy, der sich auf vier Photogrammen dezidiert mit dem Werk des Künstlerpaares Lucia Moholy und László Moholy-Nagy auseinandersetzt. Ergänzt und erweitert schließlich werden diese unterschiedlichen fotografischen Positionen durch einen fluoreszierenden Farbkörper der 1961 geborenen Kölner Lichtkünstlerin Regine Schuman. Deren fast zwei Meter hohe Acrylglasarbeit „Tower Rheinstetten“ ist nicht nur eine Auseinandersetzung mit der ausdrucksstarken Transformationskraft des Lichtes ,die Leuchtstele verleiht den einzelnen Themenfeldern dieser Ausstellung zugleich auch eine sinnliche Präsenz und Plastizität.

Alle Positionen zusammen kreieren in dieser Ausstellung einen poetischen Raum, in dem das Licht als eigentliches Sujet der Fotografie zurückgeholt wird.. Wie schon im Denken Goethes wird die Anschauung selbst zur Theorie. Das Licht ist das Licht. Und dieses Licht scheint in der Finsternis und die Finsternis kann es hier endlich ergreifen.