Der Titel Ultranackt liefert bereits einen ersten Anhaltspunkt, aber gibt es überhaupt eine Steigerungsform von nackt? Vielleicht durch Häutung, so Raphaela Vogels Antwort, die sie im letzten Raum dieser ersten Einzelausstellung ausserhalb ihrer deutschen Heimat offeriert: In einem Video erscheint die Künstlerin mit einem Ganzkörperanzug bekleidet, der mit der menschlichen Muskelstruktur bedruckt ist und die, nachdem die Haut abgezogen wurde, bloss liegt. In anderen vorhergehenden Videos in der Ausstellung taucht sie nackt auf, den Körper gegen einen alleinstehenden Baum und die Erde gepresst, oder, kaum bekleidet, eine Wasserrutsche hinabgleitend.

Kamerafrau, Cutterin, Kostüm- und Lichtdesignerin, Tontechnikerin: Vogel besetzt typischerweise alle diese Rollen, einschliesslich die der einzigen menschlichen Protagonistin ihrer Videos. Wenn es also einen roten Faden in Vogels Arbeit gibt, dann jenen, dass die Künstlerin selbst im Zentrum des Werkes steht; ungeniert exponiert und exponierend, und wenn nicht buchstäblich nackt, dann doch metaphorisch, völlig entblösst.

Das Ergebnis von Vogels unerbittlichem Exhibi- tionismus ist eine anarchische Kritik der Phallokratie: Sich ihres eigenen Bildes ermäch- tigend, beherrscht sie die Werkzeuge und Technologien, die für dessen Produktion notwendig sind und verwandelt sie in Instrumente der Emanzipation. Das Resultat ist von Unruhe gekennzeichnet. Die von kühn platzierten Kameras aufgenommenen Bilder und die gleichzeitig spielenden Klangwelten der Künst- lerin, die als Jugendliche eine Punkband gegründet hat, wirken fieberhaft. Als Kunststudentin warf oder schwang Vogel Kameras während der Aufnahme in die Luft. Für ein Video befestigte sie einmal eine Videokamera an das automatische Verdeck eines Cabriolets und für ein anderes an das Bein eines galoppie- renden Pferdes. Unlängst montierte sie Kameras an vorprogrammierte Drohnen – den Begriff der ‹Vogel›-Perspektive wörtlich umge- setzt – oder liess eine Kamera rasant während der Aufnahme eine Wasserrutsche hinab schlittern.

Vogel schneidet das Bildmaterial so, dass Brechungen, Reflexionen oder Wiederholungen stattfinden, während ihre Filmmusik pulsiert, angereichert mit Judas Priest-Liedfragmenten, dem Vorsingen eines Heavy Metal-Sängers und der gebrochenen Stimme der Künstlerin selbst, die sentimentale Liebeslieder interpretiert. Zu Beginn der Ausstellung allerdings verzichtet sie auf bewegte Bilder und er- öffnet stattdessen mit einer Installation, deren Ton auf dem Zirpen von Grillen basiert, regelmässig unterbrochen von einem leiden- schaftlich gesungenen Fanlied des deutschen Fussballvereins Borussia Dortmund (BVB). In Ultranackt rückt die Künstlerin eine bildhauerische, installative Praxis in den Vorder- grund, die aufzeigt, dass sie sowohl Schöpferin von Objekten als auch von bewegten Bildern ist. Beziehungsweise präsentiert sie sich als eine Künstlerin, die Video nicht als Selbstzweck begreift. Denn die ausgeklügelten und greifbar plastischen Konstruktionen, in denen ihre Ton- oder Videoarbeiten gezeigt werden, sind nicht bloss rahmende Strukturen, sondern wesentlicher Bestandteil ihres Denkens und ihrer Arbeitsweise.

So werden ganz bewusst Verbindungen zwischen einzelnen Installationen hergestellt: Beispielsweise wenn die Grillen-Toninstallation des ersten Raums subtil im vierten Raum der Ausstellung erneut erklingt und wenn die Projektionen in den letzten beiden Räumen in ihren lauten und leisen Momenten aufeinander abgestimmt sind. Aber auch der seltsame Zusammenhang zwischen den Abguss-Elementen der Wand- arbeiten im letzten Raum und der Schlange an Skulpturen, die den zweiten Raum durchquert und wie das Rückgrat der Ausstellung auftritt. Während die Ton- und Videoelemente in Vogels Werk besonders phantasmagorisch erscheinen, so wirken die barocken Arrangements aus gefundenen und modifizierten Objekten, aus denen die Videos heraus projiziert werden, oft schwerfällig und wuchtig. Sie verdeutlichen unweigerlich wie essentiell eine der elementaren Problemstellungen von Skulptur – jene von Schwerkraft und Gleichgewicht – ist.

Schwindelerregende, voyeuristische Perspektiven und ferngesteuerte Drohnentechnologie charakterisieren Vogels Bildgestaltung. Dennoch umgibt sich diese kameraverliebte Braut ausnahmslos mit scheinbar starken und zugleich seltsam leblosen Junggesellen. Das veranschaulicht die Skulptur des sich aufbäumenden Hengstes im ersten Raum der Ausstellung, dessen Potenz auch dann noch Ausstrahlungskraft besitzt, nachdem die Künstlerin augenscheinlich den Tierkopf mit einem Strang aus roten Kabeln durchbohrt hat. Scheinbar verursacht von der Spitze des da- vor liegenden gigantischen (jetzt gebrochenen) «Pfeils» aus Aluminium-Traversen.

Oder da wäre die Reihe der vierundzwanzig erstarrten Plastikfiguren (jede Uri (2018) betitelt), die wie männliche Bittsteller in einer Schlange warten und triefende Abgüsse eines im anschliessenden Raum ausgestellten Dixi-Urinals sind. Durch die veränderte Ausrichtung fast unkenntlich gemacht, ragt das normalerweise aufrecht stehende, für den öffentlichen Raum bestimmte Urinal jetzt wie eine futuristische Maschinen-Erektion aus der Wand der Institution. Durch die Löcher für den Urin sind in einer cleveren Anspielung auf Marcel Duchamps musealer Peepshow Etant donnés (1946–66) Videoaufnahmen zu erspähen, die Vogel in einer Art GebärmutterFantasie mit einem Plastikbaby im Arm zeigen. In ihren anderen Arbeiten, vor allem in den letzten beiden Räumen der Ausstellung, wird das «männliche Prinzip» zum einen ver- körpert durch das Zitat der phallisch-aufsteigenden Form von Constantin Brâncușis La colonne sans fin (1918) – hier als Holzpodeste für die Video-Projektoren – und zum anderen durch den massiven, tonnenschweren Elektro-Isolator, der umgeben von AluminiumTraversen ein monumentaler, aufragender Sockel ist, und dabei den Blick versperrt.

Männlichkeit oder der «männliche Blick» wird für die Künstlerin auch durch das Auge mechanischer Drohnen repräsentiert, die so oft als Spielzeuge für Jungen beworben werden. Sie fliegen voyeuristisch über die Künstlerin, wenn sie in Fruit of the Hoop (2018) nackt wie eine biblische Eva in der Landschaft schmachtet, oder schweben überwachend über ihr, wenn sie in Isolator (2016) wie eine Gestrandete aus der Meeresbrandung kriecht. Neben dem was Vogel als «Videoskulpturen» bezeichnet, hat sie seit Jahren Arbeiten produziert, die irgendwo zwischen einer primi- tiven Form von Malerei und Skulptur angesiedelt sind. Bestehend aus Tierhäuten, die aufgeschnitten, bemalt und manchmal derart geformt sind, dass sie verschiedene Arten von Öffnungen aufweisen, entfalten sie sich gespreizt an den sie tragenden Wänden. In dieser Ausstellung sind Exemplare aus synthetischem Leder zu sehen, an denen Abgüsse von Spielzeug-Dinosaurierknochen, die an Wirbelsäulen denken lassen, angebracht sind und deren Werktitel eine Hommage an stereotypische Namen von Schweizer Kühen (Alma, Heidi, Vreni) sind. Diese an Eingeweide erinnernde Kunstwerke hängen im letzten Raum der Ausstellung der Videoinstallation gegenüber, in der die Künstlerin in ihrem wie gehäutet aussehenden Ganzkörperanzug erscheint. Die Werke wirken bereit, Vogels über-entblösstes Selbst schützen zu wol- len, durch ihr Angebot an elementarem Schutz.

Dieses erwähnte Selbst ist «ultranackt», aber für die Künstlerin enthält das «ultra» des Titels noch eine weitere Referenz: An die hart- gesottenen Fussballfans, die in Italien, Deutschland oder der Schweiz als Ultras be- kannt sind. Ihre fanatische (fast ausschliesslich männliche) Inbrunst und berüchtigte Gewalt findet Widerhall in der Dramaturgie der Ausstellung und ihrer rasenden Eskalation sowie im Einsatz von Elementen, die für öffentliche Grossveranstaltungen typisch sind (Verweise auf Urinale und Traversen aus der Veranstaltungstechnik, dem Schwirren von Insekten oder Fussball-Fanliedern). Vogel platziert ihr einsames Selbst in einer von Männern dominierten Welt und agiert dabei als widerständige Bevollmächtigte energetisch und direkt. Sie übernimmt die Kontrolle über ihr eigenes Bild, indem sie männliche Autorität mit allem, was diese zu lange für sich beanspruchte, forsch untergräbt. Raphaela Vogel wurde 1988 in Nürnberg, DE, geboren; sie lebt und arbeitet in Berlin.