„Beben“ klingt heftig und beschreibt dennoch nur annähernd die gesellschaftliche Explosivität dessen, was der aufsteigende Malerstar Gustav Klimt um 1900 der Öffentlichkeit präsentieren wird. Mit dem Blick auf diese dramatischen Veränderungen setzen wir unsere Reise zu einem der atemberaubendsten Küsse der Kunstgeschichte fort, die wir mit meinem ersten Artikel im Juli angetreten haben.1 Diese Reise ist mehr als Geschichte, sie ist - wie wir deutlich erkennen werden - brandaktuell!

Gustav Klimt wird nach seinem erschütternden Schicksalsjahr 1892, in dem er kurz hintereinander seinen Vater und seinen Bruder Ernst verlor, zu einem radikalen Stil finden. Die neue Kunst löst in der vibrierenden aber auch traditionsbewussten Donaumetropole Wien eine massive Schockwelle aus. Sie bricht mit den klassischen Traditionen der Malerei und führt zu einer der heftigsten Revolutionen in der Kunstgeschichte – und zu noch viel mehr! Der Weg ist geebnet zum weltberühmten „Kuss“ sowie später zum Sturm des Expressionismus, der mit Egon Schiele einen unvergleichlichen Höhepunkt findet.

Klimt erhielt 1894 zusammen mit seinem Kompagnon Franz Matsch vom Unterrichtsministerium den äußerst prestigeträchtigen Auftrag für sehr große, repräsentative Deckengemälde im Festsaal der Wiener Universität. Konkret wurde er gebeten, auf drei einzelnen Gemälden die Schlüsselfakultäten Medizin, Jurisprudenz und Philosophie darzustellen. 1900 war die „Philosophie“ fertig, die beiden anderen Werke folgten wenig später.

Bereits die „Philosophie“ führte zu einer Presseschlacht in Wien. Insgesamt 87 Professoren der Universität verfassten eine heftige Protest-Petition für das Ministerium.2 Das war erst der Auftakt einer jahrelang tobenden Diskussion über die neue Kunst, die Wien regelrecht erschütterte und bis in höchste Kreise der Politik reichte. Gustav Klimt hat all das sehr getroffen. Der Künstler arbeitete nach diesem Auftrag nie wieder für die öffentliche Hand und nahm das Werk später bei Verzicht auf das Honorar zurück.

Was er tat, war für einen Großteil der Professoren schlimmer als ein Skandal. Klimt malte unter dem Eindruck des belgischen Symbolisten Fernand Khnopff stark metaphorisch. Führende Fakultätsmitglieder empörten sich über die Erotik bzw. Hässlichkeit der Darstellungen. In der Tat hatte es so etwas zuvor noch nie gegeben. 3 Die beeindruckenden 4,3 x 3 Meter großen Darstellungen wirken wie mystische Gedankenströme oder aneinandergereihte Fragmente tief berührender, zum Teil beängstigender Träume. Tragischerweise sind die Originale dieser bahnbrechenden Werke kurz vor Kriegsende im Schloss Immendorf in Niederösterreich verbrannt. 4

Überlegen Sie die ungeheure Innovation und den Mut: Klimt verlässt die klassische Malerei sowohl inhaltlich als auch vom Bildaufbau. Und dies obwohl er bereits etabliert war. Gerade in der „Medizin“ und der „Philosophie“ finden wir einen Symbolismus, der unter die Haut geht: Ein Rendezvous zwischen Eros und Tod! Momente schwebenden Glücks verschwimmen mit verzweifelnden Blicken in menschliche Abgründe. Klimt inszeniert die Polarität des Lebens als Traumbild! Vermutlich hatte er ein Gespür dafür, dass sich im Traum die Essenzen unseres Seins zeigen.

All das passte überhaupt nicht in die herrschende Salonkultur, die auf das Schöne, Elegante und vor allem relativ Brave fokussierte. Wenn wir ehrlich sind, begegnen uns auch heute noch viele Widerstände gegen Neues oder einfach nur gegen Inspirationen, eingetretene Pfade zu verlassen. Ein Denken, Fühlen oder Handeln abseits etablierter Wege wird sogar in unseren so entwickelten westlichen Gesellschaften oft argwöhnisch, vielfach ablehnend beobachtet. Wie wollen wir die digitale Gesellschaft gestalten und den globalen Herausforderungen des 21. Jahrhunderts begegnen, wenn wir uns nicht endlich einschränkungslos öffnen? Digitalisierung, von der viele Menschen so gerne sprechen, als Selbstzweck wird nicht ausreichen, ist sogar tückisch oder gefährlich. So wie alter Wein in neuen, schicken Schläuchen. Auch heute bleibt die entscheidende Frage: In welcher Gesellschaft wollen wir künftig überhaupt leben?

Die europäischen Staaten im 19. Jahrhundert waren jedenfalls nicht auf die fundamentalen Umbrüche durch die Industrialisierung vorbereitet. Das führte neben allen beeindruckenden technischen Entwicklungen zu einer Massenverelendung unvorstellbaren Ausmaßes. Damit brachte das Licht des explodierenden Fortschritts im 19. Jahrhundert zugleich sehr tiefe Schattenseiten mit sich. Genau hier beginnt Gustav Klimt hinzuschauen, für viele Zeitgenossen sehr unbequem, ja erschreckend. Wie bereit sind wir heute, auf die komplexen Veränderungen zu blicken, welche die vierte industrielle Revolution für uns bereit halten könnte? Über welche Gesellschaftsmodelle denken wir für die Zukunft wirklich nach? Lassen wir uns durch Technik und Algorithmen im Interesse Einiger reaktiv und zunehmend kulturloser in die Zukunft spülen oder reiten wir bewusst eine Welle von digitalen Innovationen, die uns in unserer gesellschaftlichen und humanistischen Entwicklung tatsächlich bereichern? Wir stehen an einem tiefgreifenden Scheideweg!

Auch wenn Klimt den Fakultäts-Auftrag unter großer Betroffenheit zurückzog: Diesen Künstler und seine Ideen konnte niemand mehr aufhalten! Er wird zum Avantgardist, der sich nicht beirren lässt, gleichwohl er so etwas wie die Fakultätsbilder nicht wiederholt. Sein Talent gepaart mit Entschlossenheit, Sensibilität und einer tiefen Überzeugung von seinem neuen Weg in der Kunst waren eine Persönlichkeits-Mischung, die den späteren Weltruhm herbei führte.

Mit den Fakultätsbildern beginnt in der Kunst in Wien um 1900 der oft erschaudernde Blick auf das Unbewusste. Er stellte kein absolutes Novum dar, nachdem schon Goya oder Füssli sich dem menschlichen Traumthema mit Gänsehauteffekt gewidmet hatten. Im Rahmen der Wiener Moderne stürzt sich jedoch beinahe eine ganze Epoche auf das Phänomen des Unbewussten auf einer nun sogar durch die Wissenschaft etablierten, völlig neuen Ebene.

Sicher ist es kein Zufall, dass Sigmund Freud, der intellektuelle Megastar der Stadt, fast zeitgleich um die Jahrhundertwende „Die Traumdeutung“ veröffentlichte und sich immer wieder diesem faszinierenden Thema widmete. Freud stieß die wissenschaftliche Tür zum Unbewussten auf. Damit beeinflusste der Vater der Psychoanalyse avantgardistische Künstler wie Klimt, Schiele, Kokoschka, Moser und natürlich Gerstl, der sich als einer der Ersten die „Traumdeutung“ besorgt hatte. Die phänomenalen Ergebnisse der Durchdringung von Kunst und Wissenschaft in den Salons und Kaffeehäusern Wiens wurden weltbekannt und sind dennoch heute nicht mehr allgegenwärtig.

Noch zu gern berufen wir uns in den Industriestaaten auf die aufklärerischen Ideale der menschlichen Vernunft. Verständlich, denn: Die Vernunft wird es schon richten! Sicher hatte die Aufklärung bei der Überwindung der alten feudalen Ständeordnung im 18. Jahrhundert einen unschätzbaren Wert. Einige ihrer Thesen - gerade hinsichtlich der Menschenrechte – haben ihn bis heute. Dennoch konnten sich die Ziele dieser Aufklärung in ihrer Gesamtheit in der Praxis des 19. Jahrhunderts – wie beschrieben – keinesfalls bewahrheiten. Das Vernunftsdenken der Aufklärer fokussiert eher auf die Spitze des Eisberges unseres menschlichen Seins: Unser Bewusstsein. Im Denken und Fühlen von Wissenschaftlern bzw. Künstlern der Wiener Moderne liegt der Fokus hingegen zunehmend auf dem Unbewussten, dem geheimnis- und machtvollen Teil, zu dem wir normalerweise keinen Zugang haben. Dieser de facto riesige – und oft wahrhaftig gefährliche – Teil des Eisberges „unter dem Wasser“ trägt unsere Triebe, Aggressionen und Sehnsüchte.

D.h. insbesondere in der Auseinandersetzung mit der Kunst und der Wissenschaft der Wiener Moderne bekommen wir ein nachhaltiges Gefühl dafür, dass viel mehr existiert, als wir bewusst wahrnehmen oder gar in Algorithmen fassen können. Diese Welt ist weitaus komplexer, als wir glauben und in jedem Fall beweisen können. Die Wiener Moderne eröffnet uns in der Kunst und der Wissenschaft einen atemberaubenden und manchmal erschütternden Blick in die Tiefen unseres Seins.

In diesen Tiefen agiert auch das, was die (ganz) alten Griechen als Urkraft betrachteten: Eros! Dieser unberechenbaren, uns alle erfassenden Kraft wird sich Gustav Klimt nach der großen Enttäuschung um die Fakultätsbilder mit großer Hingabe zuwenden. Er wird am Beginn des 20. Jahrhunderts in Wien kometenhaft aufsteigen und eine kühne, symbolische Kunst großer Weisheit und besonderer, oft sehr erotischer Schönheit schaffen. Er stößt in völlig neue Dimensionen vor. Legendäre Affären umgeben sein Leben und er zaubert eine noch nie dagewesene weibliche Erotik auf die Leinwand bzw. das Papier. Wiens Damenwelt hat sich angeblich pikanterweise dem Malerstar Klimt noch viel radikaler und bereitwilliger geöffnet, als dem Schöpfer der Psychoanalyse und eigentlichen „Profi“ Sigmund Freud.

In meinem finalen Artikel möchten Gustav Klimt und ich Sie mit großem Herz und Power zum Kuss der Küsse begleiten: Wir werden Sie begeistern!

Fußnoten

1 Mario Bogisch, „Der schärfste Kuss!, Wie die Wiener Moderne die Kunstwelt revolutionierte“ , im Wall Street International, 6. Juli 2018. Es geht natürlich um den weltberühmten „Kuss“ von Gustav Klimt im Wiener Belvedere.

2 Barbara Sternthal, „Gustav Klimt, Mythos und Wahrheit“, Wien 2006, S. 69, 70.

3 Eric Kandel, „Das Zeitalter der Erkenntnis, Die Erforschung des Unterbewussten in Kunst, Geist und Gehirn von der Wiener Moderne bis heute“, deutschsprachige Ausgabe, München, 2014, S. 133.

4 Rekonstruktionen der Werke in Schwarz-Weiß sind bis Anfang November 2018 in der gelungenen Ausstellung „Gustav Klimt – Der Jahrhundertkünstler“ im Wiener Leopold Museum zu sehen.