Der Begriff Living Sculptures, zu deutsch „lebendige Skulpturen“, ist in der Geschichte der Kunst mit den in Großbritannien lebenden Künstlerpersönlichkeiten Gilbert & George verbunden. Das Duo, das von sich selber behauptet: “We are two people, but one artist”,(1) revolutionierte in den späten 1960er-Jahren die Kunst, indem es sich zur Living Sculpture erklärte.(2)“Art and life became one, and we were the messengers of a new vision. At that moment that we decided we are art and life, every conversation with people became art, and still is.”(3) Im Kontext der damals aufkommenden Konzeptkunst stellte diese Haltung, die eine Erweiterung des Skulpturbegriffs bedeutete, eine Besonderheit dar und sorgte für Aufsehen – nicht zuletzt in den informierten Kreisen der europäischen Kunstszene.

Eine ganz besondere Wirkung entfalteten die Gedanken von Gilbert & George im deutschen Rheinland, wo die eng miteinander verbundenen Künstler Konrad Lueg, Sigmar Polke und Gerhard Richter seit den frühen 1960er-Jahren, eigenständig oder gemeinsam, nach neuen Wegen für die Kunst suchten. Dabei arbeiteten die drei nicht nur im Bereich der Malerei, sondern experimentierten ebenfalls mit Arbeiten, die sich in unterschiedlicher Ausprägung der Gattung Skulptur annäherten, was eine weitere Parallele zu den in London lebenden Kollegen bedeutete. So befasste sich Lueg, der als Konrad Fischer ab 1969/70 (4) Galerist von Gilbert & George wurde, mit dem Themenkomplex in verschiedenen Ausprägungsformen.

Den Anfang der Auseinandersetzung markieren zwei 1963 entstandene Pappmaché-Figuren, die den Düsseldorfer Galeristen Alfred Schmela und den US-amerikanischen Präsidenten John F. Kennedy darstellen.(5) Diese Objekte, die Lueg gemeinsam mit Gerhard Richter realisierte, waren Bestandteil der Aktion Leben mit Pop. Eine Demonstration für den Kapitalistischen Realismus und reflektierten die Virulenz von Fluxus und Pop Art.(6) Kurze Zeit später fertigte Lueg eine größere Anzahl von schildartigen Objekten, die Frauen, Boxer oder Fußballspieler zeigen und irgendwo zwischen Skulptur und Malerei anzusiedeln sind. Ab 1967 erweiterte er dann das Spektrum seiner Skulpturen um kleine und große Aufblaswürfel aus duschvorhangartigen Folien, die mit ihrer Musterung und voluminösen Ausformung nicht nur als Antwort auf die amerikanische Minimal Art gelesen werden können, sondern von einem ähnlichen Humor gekennzeichnet sind, wie er auch in Gilbert & Georges Werken As Used by the Sculptors (1972) oder Reclining Drunk (1973) mitschwingt.

Noch deutlicher lässt sich die Faszination für Skulptur bei Polke nachvollziehen, der eine ganze Reihe von Objekten und Installationen fertigte bzw. anfertigen ließ. In diesem Zusammenhang kann das Kartoffelhaus von 1967 genauso angeführt werden wie Polkes Peitsche von 1968 oder seine Kartoffelmaschine von 1969, jener „Apparat, mit dem eine Kartoffel eine andere umkreisen kann“. Zudem gebärden sich die Zeichnungen Polkes als Basis für die Konzeption und Imagination des Skulpturalen, wobei der größere Teil der Entwürfe nicht als Objekt realisiert worden ist. Gleichzeitig projektierte Polke eine Reihe von Gegenständen, die er schließlich als Staffage von Fotografien oder Filmen einsetzte. Gerade diese Werke, zu denen auch das 1968 entstandene Portfolio ... Höhere Wesen befehlen gezählt werden kann, sind eng mit performativen Handlungen verbunden, über die gedanklich eine weitere Brücke zum Ansatz von Gilbert & George geschlagen werden kann.

Richter dagegen fertigte im Zuge der eher experimentellen Gemeinschaftsarbeiten mit Konrad Lueg erst Jahre später wieder objekthafte Werke, 1967 zunächst 4 Glasscheiben, 1969/70 dann das Kugelobjekt und 1971 Zwei Skulpturen für einen Raum von Palermo. Darüber hinaus finden sich auch bei seinen Zeichnungen Darstellungen, die auf das Interesse an skulpturalen und installativen Formulierungen schließen lassen. Als Beispiel kann in diesem Zusammenhang der 1968 entstandene Entwurf für Zwölf Röhren angesehen werden, den Richter noch im selben Jahr umsetzte.(7) Neben seiner Aufgeschlossenheit für die Erprobung von Werken, die jenseits einer klassischen Leinwand anzusiedeln sind, lässt sich als weitere Gemeinsamkeit mit Gilbert & George eine Affinität zur Romantik feststellen, fertigte das Künstlerduo doch unzählige Zeichnungen, Fotografien und Postkarten mit Verweis auf diese kunstgeschichtliche Epoche.

Das geteilte Interesse für alternative Ausdrucksformen und die gedankliche Nähe beflügelten den Umstand, dass die Kunst von Gilbert & George im Rheinland auf einen ausgesprochen fruchtbaren Nährboden fiel, was sich nicht zuletzt in einem regen Austausch zwischen den hier angeführten Künstlern niederschlug. So fertigte Richter Gemälde, die auf das Duo Bezug nehmen, während Polke Fotos von ihnen machte, die er per Hand kolorierte, und Konrad Lueg sie einlud, einen Beitrag für eine Edition zu gestalten.

Die Ausstellung Lebendige Skulpturen will einerseits die wenig bekannten, aber bis in die Gegenwart nachwirkenden Berührungen von Gilbert & George, Konrad Lueg, Sigmar Polke und Gerhard Richter mit der Gattung Skulptur vorstellen, andererseits aber auch die Gemeinsamkeiten, Unterschiede und fruchtbaren Dialoge zwischen den künstlerischen Positionen aufzeigen.