Sen Chung ist Maler und seine Gemälde wirken in der Schwebe und unvollendet, faszinieren jedoch bei eingehender Betrachtung. Er fordert uns einzutauchen, hinzuschauen und man kann sagen unscharf zu blicken, weniger analytisch denn fühlend. Auf den ersten Blick wirken seine Bilder der letzten Jahre abstrakt, verwaschen oder verwischt, nebulös und teilweise nervös, und zugleich sind sie strukturiert, geometrisch, analytisch und klar. Dieser Widerspruch liegt an der geschickten Kombination von meist sehr informell gehaltenen und unruhig ausgeführten Hintergründen, eine Technik, die seine Gemälde bereits seit einigen Jahren dominiert. Neu aber ist jene zarte Farbfeldmalerei in spärlichen, farbig ausgeführten Flächen, von unsichtbaren Kräften gehaltene Felder und Formen, die sich auf annähend denselben Hintergrundflächen tummeln als freie Elemente oder gruppieren als geordnete Formen. Ihnen scheint ein in seinen strengen Konturen aufgelöster Suprematismus der 1910er-Jahre konsequent die ungegenständliche und radikale Balance zu leihen. Sen Chung nutzt diese strenge und zugleich verspielte Kunstrichtung, da sie ihm jetzt die Möglichkeit erlaubt, eine vollkommen ungegenständliche Kunst abstrakt zu denken, da die von ihm verwandten Formen keine Abstraktionen (Verwesentlichungen/ Vereinfachungen) mehr von sichtbaren Gegenständen sind. Die von allen Gegenstandsbezügen befreite konstruktive Kunstrichtung zeigt in den geometrischen Formen höchste menschliche Erkenntnisprinzipien, die in ein nebulöses Feld von vagen Andeutungen der realen Hintergründe (oder Ursachen) eingebettet sind, von den unbekannten, nur geahnten Schleiern der Erkenntnis getragen. Insofern steht die gegenstandlose Freiheit, die vor über einhundert Jahren Kasimir Malewitsch anstrebte, bis heute im Dienste einer formal-energetischen Ökonomie, die organisierte Strukturen hervorbringt. Das ästhetische Programm sollte und kann eine neue Wirklichkeit veranschaulichen, die, obwohl sie mit den herkömmlichen Mitteln nicht erfasst werden kann, dennoch existiert. Nach dem zweiten Weltkrieg geschah dann in der freiheitlich-demokratischen westlichen Welt dasselbe Phänomen mit umgekehrten Vorzeichen, dem ideologischen Siegeszug der Abstraktion. Die machtvolle Freiheitsdemonstration der abstrakten Kunst in den USA, Frankreich oder Deutschland nach 1945 ist nicht ohne die politische und soziale Lage der Nachkriegszeit verständlich. Und in beiden Ideologien gilt: Da die alten Formsprachen und Begriffe das alte Weltbild und damit auch das Handeln des Menschen bestimmt haben, ist die neue Kunst genauso in der Lage, über die Schaffung eines neuen Weltbildes auch die menschliche Gesellschaft zu erneuern.

Die Freiheit, die sich bei Sen Chung hinzugesellt, ist die der gestischen Abstraktion, und insofern sind in seinen aktuellen Gemälden seit einigen Jahren beide Ideologien auf beeindruckende Art und Weise verknüpft. Verfolgt man den Werdegang des Malers, stößt man auf die koreanischen Eigenheiten ebenfalls zweier, jedoch damals schon nicht und bis heute nicht vergleichbarer Kunstsysteme. In diesem politischen Kontext sitzt eine historische Figur, eine für ihre feinsinnigen Natur-Darstellungen berühmte Künstlerin aus dem 16. Jahrhundert, Shin Saimdang. In Korea gilt sie als Mutter-Ideal und wird in Nord- wie Südkorea gleichermaßen geschätzt. Sie begründete den Malstil Chochungdo, mit der Darstellung von realistisch detailgenauen Pflanzen und Insekten – ein umfassend faszinierendes Weltbild. Mir persönlich und subjektiv erscheint seine Malerei diesen historischen Richtungen treu und voller Respekt gegenüber, er selber betont die Nähe und einen persönlichen Bezug zum berühmten Maler Kyomjae Jeong Seon (1676–1759), dessen Weltanschauung, die umfassende Naturbetrachtung und erhabene Kontemplation seiner Malerei. Sen fühlt sich diesem Maler sehr nahe und betont seine visionäre Kraft und Unabhängigkeit, vor allem die Atmosphäre in seiner Malerei, die ihn seit seinem Studium und der Erforschung der Weltbilder als Bilderwelten sehr beeindruckt.

Sen Chung, wie die historischen Maler, untersucht neue Wege der Bildfindung und formuliert eine Bildsprache, die sich in großen Spannungsbögen formaler und kosmologischer Entsprechungen auskennt und ausdehnt. Die Gemälde sind analoge Natur und modellhafte Kosmologie, Weltbilder suprematistischen wie auch abstrakt-tachistischen, bis hin zu mehr oder weniger spirituell motiviert scheinenden Untersuchungen der Neu-Erfindung einer Natur, die uns von Anbeginn nicht mehr ins Zentrum eines Systems setzt, wie Kopernikus glaubhaft verunsicherte. Doch das ist wiederum eine ganz neue Geschichte.

Betrachten wir eingehend Sens Gemälde, in denen wir der Kräfte gewahr werden, die immer verborgen in den sichtbaren Dingen unser Welt bleiben. Schauen wir seine Natur als Malerei, die zwischen den großen Ideologien eine visuelle Erkenntnis formuliert, in dessen Kosmos (oder unsichtbaren Horizont) der Mensch unbändige Freude an der Konstellation der Gegenstände der Natur empfindet, und seien sie zu guter Letzt auch nur Farbe auf Leinwand. „Freude schöner Götterfunken“ lautete es in Buchstaben bei Friedrich Schiller; knapp 300 Jahre nach Kopernikus...