Man stelle sich vor, dass ein geschmolzener Eiswürfel wieder in seine Form gegossen und eingefroren wird. Wird er zurück in seine ursprüngliche Form gebracht, verkleinert er sich; es wird weniger von ihm vorhanden sein als vorher. Nun stellt man sich vor, dass dieser Vorgang auf andere Objekte angewendet wird – so wie es Tania Pérez Córdova tut. Sie nimmt eine Gussform von einem Objekt ab, dann schmilzt sie das Objekt ein und benutzt das eingeschmolzene Material des Objektes selbst, um einen Abguss, eine Kopie des Objektes, zu erstellen. Dieses eigen- artige Verfahren steht im Mittelpunkt der ersten institutionellen Einzelausstellung der mexikanischen Künstlerin in Europa.

Zur Vorbereitung der Ausstellung sammelte Córdova prosaische Dinge – unter anderem einen Kupfertopf, einen Krug aus Glas, einen Maschendrahtzaun, Silberbesteck – einige davon gehören ihr, andere sind gefunden. Sie unterzog sie alle diesem Prozess des «KopieEines-Objektes-Aus-Sich-Selbst-Gemachten».

An eine Wand oder über eine Tür gehängt, auf einem Teppich in der Mitte des Raumes platziert, wirken die ohne Zweifel unbeholfenen Ergebnisse grob, pockennarbig und irgendwie unfertig, auch wenn das Auge des Betrach- tenden ihre ursprünglichen Formen leicht wiedererkennt. Sie sind Verschmelzungen aus ihrer eigenen Materie mit vereinzelten Löchern, welche durch Spuren von Lippenstift oder pflanzlichem Proteinpulver deutlich werden – sorgfältig ausgewähltes Material, das aus den ehemals dichten Gefässen austritt. Bei einer anderen Arbeit, Paisaje (dt.: Landschaft), wird ein Stück Seife oder ein Flaschenverschluss in die neuen Lücken der Zaun-Kopie geklemmt, wodurch diese noch offensichtlicher, kantiger erscheinen. Bei aller beharrlichen Materialität ihrer Objekte ist das, was tatsächlich auffällt, die Lücke zwischen Original und Kopie, zwi- schen erster und zweiter Generation, zwischen massenproduziertem Readymade und handgemachter Nachbildung. Córdova hat buch- stäblich Verlust gemacht und stellt ihn aus. Die Künstlerin geniesst den Prozess dieser Art der Herstellung – oder besser gesagt, diese Art der verschwindenden Herstellung. «Würde ich diesen Vorgang theoretisch auf unbestimm- te Zeit fortsetzen,», deutet sie an, «würden die Dinge irgendwann ganz verschwinden.»

Der Eiswürfel zum Beispiel würde sich beim Versuch des wiederholten Sich-Selbst-Werdens vollständig auflösen. In der Ausstellung geht die Künstlerin nicht so weit, ihre Objekte vollständig verschwinden zu lassen, sondern die Werke thematisieren auf materieller wie auf metaphorischer Ebene Verlust und Neubildung, Authentizität und Imitation.

Die Mutationen oder das Trügerische, welche in einem Ding stecken – wie es seine materielle Integrität verändert, wie es etwas (oder jemanden) kosmetisch verschönert, oder wie es einfach so tut als sei es etwas, was es nicht ist, nehmen verschiedene Gestalten in Córdovas eleganter, rätselhafter Ausstellung an. In der polierten Vertiefung eines ObsidianSteines (geschmolzener vulkanischer Schlamm, der gekühlt zu Glas wird) liegt eine billige, falsche Goldkette (Sincere / Non-sincere, dt.: Aufrichtig / Nicht-aufrichtig). Allerdings bildet die luxuriös scheinende Natursteinoberfläche einen starken Kontrast zur minderwertigen Kette, die vorgibt, etwas zu sein, was sie nicht ist. Ganz in der Nähe hängen mehr als neun Meter ähnlicher Halsketten an einer hoch im Raum angebrachten Metallstange (People keeping their belongings, others throwing theirs away, dt.: Leute behalten ihre Habseligkeiten, andere werfen sie weg). Alle Ketten wurden von der Künstlerin auf einem Markt in Mexiko-Stadt gekauft und für alle ausser einer wurde ein Modeschmuckpreis gezahlt.

Eine der Ketten sei aus echtem Gold, so das Versprechen, und sie wurde mit diesem Wert an die Künstlerin verkauft, obwohl sie genau wie die anderen aussieht. Das Publikum wird sie nicht unterscheiden können, genauso wenig wie die Künstlerin, die nur darauf vertrauen kann, dass die Aussage der Verkäuferin der Wahrheit entspricht.

Wie eine Schiene läuft ein Kunstwerk (OOOOO) aus unterschiedlichen, dünnen Marmor- und Gipsstücken eine Wand entlang (erneut treffen hier erlesene Materialien auf ihre ökonomisch minderwertigen Platzhalter). In kreisförmigen Vertiefungen schwimmen einzelne Kontaktlinsen, Produkte angestrebter kosmetischer Veränderung par excellence. Während der Aus- stellung werden Besuchende immer wieder Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern der Kunst- halle Basel begegnen, die bereit sind, zeitweilig ihre Augenfarbe zu verändern, indem sie die andere Hälfte der Kontaktlinsenpaare aus Córdovas Arbeit tragen. Dadurch wird das Kunstwerk erweitert aktiviert und hat Wir- kungskraft weit über den reinen Ausstellungsraum hinaus. Skulptur, so beharrt Córdova, kann gleichzeitig Materie und performativ und eine Verhandlung sein.

«Vor allem», schrieb einmal ein Kritiker über ihre Arbeit, «beschäftigt sich Córdova mit Zeit.» Die Ausstellung veranschaulicht dies mit ihrem Titel, in welchem der englische Begriff «daylength», Tageslänge, vorkommt. Der englische Ausdruck ist der Wissenschaft ent- lehnt und schlägt vor, dass die Länge eines einzigen «Tages» (24 Stunden für Menschen, vielleicht nur 6 Stunden für eine bestimmte Pflanze) nach unterschiedlichen Regeln gemes- sen werden könnte, abhängig davon, über wen – oder was – gesprochen wird. Für ihre Ausstellung schafft die Künstlerin Werke, die unterschiedliche Konzepte von Zeitlichkeit verhandeln. Sie zeigen auf, dass, obwohl Kunstwerke in der Regel nach ihrer Fertigstel- lung als für immer festgelegt betrachtet werden, Córdovas Werke vielleicht einem anderen Rhythmus folgen.

Córdova hörte, während sie an der Konzeption der Ausstellung arbeitete, von einer Geschichte: Im antiken Ägypten zur Zeit von Ramses den I. wurden bestehende Sphinx-Statuen von neuen Pharaoninnen und Pharaonen wiederverwendet und ihre Gesichtsmerkmale den neuen Geschmäckern und der wechselnden politischen Ideologie entsprechend verändert. Inspiriert davon schuf sie ein neues MundRelief (Woman next to a still-life, dt.: Frau neben einem Stillleben) aus Bimsstein, welches wie eine Bahnhofsuhr hoch an der Wand hängt. In der jetzigen Form wird es nur so lange existieren, wie die Ausstellung der Kunsthalle Basel dauert. Bei jeder weiteren öffentlichen Präsen- tation wird die Form des Mundes verändert und die nächsten Fassungen werden Zähne oder ein Grinsen haben. Kontinuierlich sich verän- dernd, widersetzt sich das Kunstwerk, in seiner Form festgelegt zu sein, während es gleichzeitig den Zeitverlauf bezeugt.

An einer anderen Wand befinden sich drei Skulpturen aus Bimsstein (3 figures thinking; two standing, one seated, dt.: 3 Figuren denkend; zwei stehend, eine sitzend), jede mit jeweils zwei grob geformten Kopfhälften versehen (an Constantin Brâncușis Sleeping Muse, 1910, erinnernd). Dazwischen klemmt bei jeder Skulptur ein speziell hergestellter, flacher Brot- laib, der so lange gebacken wurde, bis er steinhart war. Ein weiterer Laib, der im hinteren Raum gezeigt wird, enthält Zigaretten. Diese wurden von der Hitze des Ofens buchstäblich während des Backvorgangs «geraucht» (Strike, dt.: Streik). All dies sind weitere Ergänzungen im wilden, eklektischen Material-Universum, welches die Ausstellung der Künstlerin bevöl- kert. Im Werk mit der poetischen Bezeichnung Architect holding a building (dt.: Architektin / Architekt trägt ein Gebäude) verweist die Verwendung von vulkanischer Asche (vermischt mit Schiesspulver und Kosmetik) an den Wänden darauf, dass es unweit Córdovas Heimatstadt aktive Vulkane gibt, die als ständige Bedrohung, als tickende Zeitbombe fungieren. Zeit manifestiert sich auch durch Córdovas Platzierung einer Pflanze mit der sogenannten Schrotschusskrankheit am Eingang zur Ausstellung. Pflanzen mit dieser Pilzkrankheit sehen aus, wie der Name schon sagt, als hätten sie Einschusslöcher in ihren Blättern und lösen sich ohne Behand- lung der Krankheit langsam selbst auf, da die Löcher immer grösser werden. Wie die Objekte in der Ausstellung, die auf ihre eigene Auflösung verweisen, so tritt hier Zeit als skulptural wirkende Kraft auf.

Zu einem Zeitpunkt bei dem niemand mehr Zeit für irgendetwas zu haben scheint, thematisiert Tania Pérez Córdova, dass Dinge Zeit brauchen: wie Lava, wenn es sich zu Glasstein verändert, wie eine Zigarette, wenn sie abbrennt, wie ein Brotlaib, wenn er gebacken wird, wie Haar, bis es unglaublich lang gewachsen ist, wie billiges Metall, wenn es sich durch Luftfeuchtigkeit und Oxidation als Goldimitation selbst entlarvt. Diese unter- schiedlichen Zeitlichkeiten bereichern die Länge der Tage in diesem Raum. Tania Pérez Córdova wurde 1979 in Mexiko-Stadt geboren; sie lebt und arbeitet in Mexiko-Stadt.