In den letzten Jahren hat Thomas Demand seine Kamera immer wieder von seinen selbst konstruierten Modellen abgewandt, um sich als Vorlage für seine bekannten Fotografien auf Modelle zu konzentrieren, denen er in Archiven und Studios renommierter Architekt_innen begegnet ist. Zunächst angeregt durch Besuche des Künstlers am John Lautner Archiv des Getty Research Institute in Los Angeles, führt Demand die Model Studies mit den Papierkonstruktionen fort, die er im Studio von Kazuyo Sejima und Ryūe Nishizawa (SANAA) in Tokio fotografierte. Sprüth Magers freut sich, mit ARCHIVMATERIAL die dritte Iteration der kontemplativen Reihe der Model Studies zu präsentieren. Die neue Reihe konzentriert sich auf die Modelle des Wiener Künstler-Architekten Hans Hollein. Im zweiten Teil der Ausstellung NEW STOP MOTION sind Stop-Motion-Animationen des Künstlers aus den Jahren 2016 und 2018 zu sehen.

Als radikaler Denker und Impulsgeber in der Geschichte der postmodernen Architektur versuchte Hans Hollein (1934-2014) das Konzept der Architektur auf alle Formen der Umwelt auszudehnen, von Raumanzügen über Werbeflächen bis hin zu Telekommunikationssystemen. So verkündete er 1968 im Bau Magazin: „Architekten müssen aufhören, nur in Bauwerken zu denken … Jeder ist ein Architekt. Alles ist Architektur.“ Der Titel der Ausstellung ARCHIVMATERIAL ist eine Anspielung auf den theoretischen Ernst der konzeptuellen Manifeste der 1960er und -70er Jahre, von denen Hollein selbst einen nicht unbeträchtlichen Teil verfasste. Als Demand die Möglichkeit bekam, Holleins umfassendes Archiv, das in zahlreichen Wiener Wohnungen lagert, zu erkunden, begann er sich mit den Materialien des Architekten eingehend zu befassen. Demands Arbeitsweise mit den Modellen Holleins steht im Gegensatz zu denen von Lautner und SANAA. Liz Diller kommentiert den unterschiedlichen Ansatz in Demands Auseinandersetzung wie folgt: „Man musste sich zunächst darüber klar werden, was man da vor sich hatte, man dechiffrierte sie, fand heraus, welche von ihnen Hollein repräsentierten. Es war viel mehr… archäologisch“ (AnOther Magazine, Herbst/Winter 2018).

Die acht ausgestellten Fotografien fangen die ausgefransten Kanten und gealterten Oberflächen von Holleins Modellen ein – wobei insbesondere Modelle der Designvorschläge für Ausstellungsarchitekturen im Vordergrund stehen. Durch Demands bewussten Einsatz von Perspektive, Ausschnitt und Beleuchtung erhalten selbst die zweckmäßigsten Elemente der Modelle eine enigmatische Qualität. In Cavern I (2018) strömt weißes Licht durch eine Reihe kreisförmiger Öffnungen in einer Abfolge diagonal angeordneter Kartonlamellen, und erzeugt so einen malerischen Halo-Effekt. Das Designmotiv von Rainbow (2018) erinnert an Holleins charakteristisches, 1965 fertiggestelltes Kerzengeschäft Retti in Wien. Das Modell wird von Demand durch eine frontale Ansicht optisch gestaucht, um die gewundenen Zwischenräume und die strahlende, für das mittlere zwanzigste Jahrhundert typische Farbpalette des Modells zu betonen.

Die ausgestellten Arbeiten sind auf einer speziell vom Künstler angefertigten Fototapete mit dem Titel Pipes (2018) installiert. Hierfür fotografierte er eine Ansammlung schlanker, lose zusammengestellter Pappröhren, deren schillernde Tiefe und uneindeutiger Maßstab einen Kontrapunkt zu Demands Model Studies setzen. In einer selbstreflexiven Wendung werden Demands Fotografien der Hollein’schen Ausstellungsarchitekturmodelle in ein Kunstwerk von Thomas Demand eingebettet - die Fototapete Cones wird somit selbst zu einer Art „Ausstellungsarchitektur“.

Für Demand dokumentieren und destillieren Architekturmodelle den kreativen Prozess, verkörpern zugleich aber auch unausgeführte Ideen und niemals realisierte Räume. Dabei gilt sein Interesse nicht den eigentlichen Strukturen, sondern vielmehr der Realität, die sie repräsentieren. Demands Model Studies lassen sich somit als Bühnenbilder denken, vor denen sich die Dramen und Vermächtnisse von Architektur und Geschichte abspielen, gefiltert durch die zeitgenössische Linse des Fotografen. In diesem Sinne stimmen sie trotz offensichtlicher Unterschiede mit vielen der Dynamiken in Demands gefertigten Papierkonstruktionen überein, für die er kulturell bedeutsame, massenmediale Vorlagen in vollendete Papiermodelle überträgt. Beide Herangehensweisen veranlassen die Betrachter_innen dazu, das Gesehene zu hinterfragen, alternative Realitäten in Betracht zu ziehen und das Verhältnis zu ihrer Umwelt – von gebauten Umgebungen über politische Bühnen bis hin zu sozialen Medien – zu überdenken.

Die beiden Stop-Motion-Animationen im zweiten Teil der Ausstellung NEW STOP MOTION rühren von Demands eigenem Modellbau her. Wie in seinen Fotografien, setzt der Künstler auch hier bei einem bestimmten Quellbild (in diesem Fall ein Video) an, das eine kulturelle oder persönliche Relevanz mit sich bringt. Nachdem er die Szene mit reich kolorierten Papieren rekonstruiert hat, lichtet Demand das Modell mehrfach ab, wobei er es jedes Mal geringfügig und mit Sorgfalt verschiebt, um es mittels dieser Bewegung zu animieren. In Ampel / Stoplight (2016) wechselt eine Fußgängerampel von einer Anordnung zur nächsten, untermalt von einem klimpernden Soundtrack, den Demand mit dem Komponisten Tyondai Braxton produzierte. Balloons (2018) folgt einem Strauß Ballons, der träge über einen Klinkerboden weht. In beiden Filmen wirken die entschieden profanen Objekte, durch Demands minutiöse Animationsarbeit und der gespenstischen, goldschimmernden Beleuchtung, hypnotisch und unheimlich.

Diese jüngsten Arbeiten sind alle in Thomas Demand: The Complete Papers enthalten - eine Neuerscheinung von MACK London, die als Werkverzeichnis der Arbeiten von Demand fungiert. Der Katalog enthält wegweisende Texte über das Werk des Künstlers und ein neues Interview zwischen Demand und dem Kurator Russell Ferguson. Die Complete Papers werden im November 2018 veröffentlicht.

Thomas Demand (* 1964, München) lebt in Los Angeles und Berlin. Ausgewählte Einzelausstellungen: Fondazione Prada, Venedig (2017, 2007), Modern Art Museum of Fort Worth und Nouveau Musée National de Monaco (beide 2016), Stiftung Insel Hombroich, Neuss und Los Angeles County Museum of Art (beide 2015), Museum of Contemporary Art, Tokio und National Gallery of Victoria, Melbourne (beide 2012), Boijmans van Beuningen, Rotterdam (2010), Neue Nationalgalerie, Berlin und MUMOK, Wien (beide 2009), Hamburger Kunsthalle (2008), Serpentine Gallery, London und Lenbachhaus, München (beide 2006), MoMA, New York (2005), Kunsthaus Bregenz (2004), Louisiana Museum of Modern Art, Humlebæk (2003) und Castello di Rivoli, Turin (2002). 2004 vertrat Demand Deutschland bei der 26. São Paulo Biennale in Brasilien.