Biologie und Evolutionstheorie haben während der letzten zwei Jahrhunderte nicht nur moderne Organismen als Wissensobjekte produziert, sie haben auch die Linie, die Menschen und Tiere scheidet, in eine blasse Spur verwandelt ...

(Dieses Zitat aus dem heute mittlerweile klassischen Text Ein Manifest für Cyborgs (1985) der amerikanischen Biologin und Feministin Donna Haraway eignet sich hervorragend als Leitmotto zur neuesten Ausstellung von Katarzyna Kozyra in der Galerie ŻAK | BRANICKA unter dem Titel Der Traum von Linnés Tochter.)

Die Ausstellung verbindet zwei Serien von Fotoarbeiten mit der jüngsten Videoarbeit der Künstlerin, von der auch der Ausstellungstitel abgeleitet wurde. Der Traum von Linnés Tochter entstand in Uppsala, in den nach Linné benannten Gärten. Der berühmte, im 18. Jahrhundert wirkende schwedische Botaniker gilt als Autor der modernen botanischen und zoologischen Taxonomie und ist Urheber der Theorie von der geschlechtlichen Fortpflanzung bei Pflanzen. Die in seiner Theorie verwendete und aus der menschlichen Sexualanatomie entliehene Namengebung sorgte in damaligen Zeiten für Entrüstung. Katarzyna Kozyra versetzte sich in ihrer Arbeit in die jüngste von Linnés fünf Töchtern: Elisabeth Christina von Linné, eine überaus begabte, doch von der Geschichte vergessene Linné-Tochter, die nie studieren durfte, doch trotzdem in die Fußstapfen ihres Vaters trat und Botanikerin wurde. In Kozyras Interpretation dirigiert Elisabeth einen Chor, der Ludwig van Beethovens berühmte Ode an die Freude aufführt ... doch die Stimmen stammen von Tieren – Hund, Esel, eine Kuh, ein Pferd, eine Ziege oder ein Affe. Die Tiere muhen oder quieken die Hymne der Europäischen Union, während sie auf gewöhnlichen Europaletten stehen, die Noahs Arche symbolisieren sollen. Es ist wohl Ironie des Schicksals, dass ausgerechnet die Tochter des Urhebers eines auf Unterschieden basierenden Klassifikationssystems für Organismen, in Kozyras Arbeit eine neue Weltordnung konstituiert, in der sämtliche Unterschiede verschwinden und alle Lebewesen gleichwertig sind.

Die Problemstellung in Kozyras Arbeiten fügt sich in die philosophische Tradition der anfangs erwähnten Donna Haraway, die eine Zukunftsgesellschaft ohne Grenzen zwischen den Geschlechtern, Gattungen (zwischen Mensch und Tier), der Biologie und Technologie (Organismus und Maschine) oder auch zwischen dem Physischen und Nicht-Physischen beschreibt. Auch Katarzyna Kozyra untersuchte in ihren bisherigen Arbeiten die Grenzen zwischen der weiblichen und der männlichen Existenz, zwischen Leben und Tod, zwischen Jugend und Alter und zwischen dem was möglich, und dem was nicht möglich ist. Ihre jüngsten Arbeiten, in denen Kozyra Menschen mit Tieren gleichstellt – und umgekehrt – Tiere mit Menschen, sind demnach eine Konsequenz ihrer früheren künstlerischen Suche.

In einer Videoarbeit und einer Fotoserie, die die Künstlerin im Palais Schwarzenberg in Wien realisierte, schlüpfte Kozyra in die Person Lou von Salomés – einer Intellektuellen und Femme fatale, die Freundschaften mit Friedrich Nietzsche, Sigmund Freud und Rainer Maria Rilke pflegte. In Kozyras Interpretation erscheinen Nietzsche und Rilke als zwei Hunde, die von Salomé an der Leine geführt und dressiert werden. Katarzyna Kozyra führt sie als Salomé durch die Palais-Salons und in den Garten hinaus. Die Serie Lou Salomé entstand im Jahr 2005, wurde jedoch bislang noch nicht öffentlich in ihrer Gesamtheit präsentiert.

Der Traum von Linnés Tochter 2018, video Indem Kozyra eine neue Symbiose zwischen Mensch und Tier anregt, begibt sie sich in die Fußstapfen Haraways. Und sie macht es aus der Sicht eines radikalen Feminismus – ebenso wie Haraway, die sich in ihrem letzten Manifest The Companion Species Manifesto: Dogs, People, and Significant Otherness mit dem Verhältnis zwischen Mensch und Hund auseinandersetzt und offen zugesteht, dass das Schreiben über Hunde für sie eine der Formen feministischer Theorien ist. Auch für Kozyra sind die Begriffe Kultur und Natur nicht zwingend gegensätzlich. Auf Fotografien aus der Serie Homo Quadrupeds (Vierbeiniger Mensch, 2018) werden nackte Männer von Frauen in Burkas an der Leine geführt, um so ihre Instinkte zu zähmen. Kozyra nimmt hier Bezug auf die Legende vom Einhorn, wo nur eine Jungfrau im Stande war, das wilde Tier zu zähmen. Während sich die Frauen bei einem Spaziergang treffen, beschnuppern sich die Hunde und versuchen sich gegenseitig zu dominieren. Es ist nicht mehr nur eine Befreiung der Frau von der männlichen Dominanz, wie in der Performance von VALIE EXPORT und Peter Weibel Aus der Mappe der Hündigkeit (1968), in der Weibel brav an den Füßen der Künstlerin schlurft. Kozyra erweitert den feministischen Aspekt um eine politische Komponente: Die Hunde, die in Kozyras Arbeiten von Arabern und Amerikanern dargestellt werden, sind überaus aggressiv und wollen sich gegenseitig an die Kehle springen. Somit ist Kozyra eher mit Oleg Kulik zu vergleichen, der in seinen Performances das Establishment als Hund angreift (tatsächlich!), aber auch von einer nicht-anthropozentrischen und ökologischen Gesellschaft träumt und sich für Demokratie einsetzt.

Die Erweiterung der Grenzen der Menschlichkeit auf andere Spezies (das Speziesübergreifen) hat seine Ursprünge in frühesten Arbeiten von Katarzyna Kozyra, zum Beispiel der Polaroid-Serie Karaski in Rindfleisch (1992), mit Akten eines hübschen, jungen Mannes, der in einer geöffneten Rinderhälfte liegt. Um das Bild zu vervollständigen, sollte man an dieser Stelle auch Kozyras Diplomarbeit Tierpyramide (1993) erwähnen, bei der sie sich von dem Grimm-Märchen “Die Bremer Stadtmusikanten“ inspirieren ließ, und die sie aus ausgestopften Tieren anfertigte: Pferd, Hund, Katze, Hahn; ergänzt von Filmaufnahmen einer Pferdeschlachtung. Die Arbeit führte damals in Polen zu einem Medienskandal in zuvor ungekanntem Ausmaß und wurde in Folge dessen zum berühmtesten Kunstwerk des letzten Vierteljahrhunderts und zum Symbol kritischer Kunst schlechthin. Nicht ohne Bedeutung war die Tatsache, dass die Künstlerin zu dieser Zeit selbst an der Grenze zwischen Leben und Tod balancierte und gegen eine Krebserkrankung kämpfte.

Während Katarzyna Kozyra in ihren frühen Arbeiten noch eine moralisch einwandfreie Haltung zu Tieren forderte, so offenbart sie jetzt, dass auch der Mensch eine Tierart ist, beziehungsweise eine soziologische Chimäre, die zur Koexistenz mit den übrigen Gattungen verurteilt ist – das schwebte wohl auch Haraway in ihrem Manifest für Cyborgs vor. Um zu überdauern muss sich jedes Lebewesen an äußere Bedingungen anpassen: eine neue Gesellschaft gründen.