Wer in die farbenreiche und symbolträchtige Bildwelt Ursula Reuter Christiansens (*1943) eintaucht, wird mit märchenhaften und mythischen Motiven konfrontiert. Es entspinnt sich darin ein Bildkosmos voller psychologischer Spannungen, die konkrete Reflexionen rund um das Erleben des eigenen Selbst in unbekannte Legenden verortet. In „The Person I am“ (2018) beispielsweise weckt ein grauer Umraum mit Falltoren Erinnerungen an steinerne Burgmauern. Darin beweint eine Frau an einem halbrunden Grabstein die Person, die sie einmal gewesen zu sein scheint. Hinter ihr baut sich bedrohlich eine Schrifttafel voll mit düsteren Worten auf, das ganze überdeckt von einem Reigen blutiger Mohnblumen. Die sich häufiger im Werk Reuter Christiansens vorfindende Form des Diptychons vollzieht hier eine Spiegelung, die den Bildraum jedoch verändert wiedergibt. Die Zweiteilung scheint damit auf einen psychologischen Prozess hinzuweisen und verleiht den Leinwänden zusätzlich sakralen oder kultischen Charakter. Denn das Diptychon tritt in der Kunstgeschichte zuerst und vorrangig als Altarbild auf. Damit wird das eigene Empfinden in Reuter Christiansens Gemälden zum Ausgangspunkt für universelle Bedeutungen. Diese liegen vor allem in der intensiven Auseinandersetzung mit dem Leben als Frau – das heißt mit all ihren widersprüchlichen Rollen, die sie im Laufe ihres Lebens einnimmt.

In diesem Sinne ist Reuter Christiansens Werk zutiefst feministisch. Die Frauenbewegung war ein entscheidendes Ereignis im Leben und Wirken der Künstlerin. In einem Interview mit der dänischen Nationalgalerie SMK Anfang vergangenen Jahres erzählt sie, was die Bewegung damals für sie bedeutete. Es sei die Verheißung von etwas Neuem gewesen, berichtet Reuter Christiansen, und der Ansporn, als Künstlerin weiterzumachen und zu überleben – eine Stärkung des Willens. Zu der Zeit studiert Reuter Christiansen bei Joseph Beuys in Düsseldorf, bis sie 1969 ihren Abschluss macht und den elf Jahre älteren dänischen Komponisten Henning Christiansen heiratet. Gemeinsam ziehen sie auf die dänische Insel Askeby, die bis heute ihr Zuhause und Arbeitsplatz ist. Trotz der Unterstützung, die sich das Paar gegenseitig entgegenbringt, spricht sie auch vom stetigen Kampf in der plötzlich grundlegend veränderten Situation, in der sie sich als Ehefrau eines Mannes aus einer älteren Generation wiederfindet.

Die Koexistenz von unterschiedlichen, gar kontroversen Rollen als Frau scheint uns in Reuter Christiansens Bildwelten greifbar zu werden. Die gleichzeitige Verkörperung sowie Verdrängung verschiedener Frauenbilder – ob als Schönheit, Hexe, Opfer – werden hier erlebbar. Dazu formen sich wiederkehrende Motive zu ihrer eigenen Sprache. Unter ihnen tritt vor allem die Mohnblume hervor. Trotz ihrer zarten Erscheinung trägt sie die Farbe von Blut und gemahnt mit ihrem schnellen Tod und dem Abfall all ihrer Blütenblätter bereits kurz nachdem sie gepflückt wurde an die Sterblichkeit. Ursula Reuter Christiansen malt sie beinahe rund, wie hungrige, gefährliche Schönheiten, die sich auf der Leinwand gelegentlich in einen blutroten Strom verwandeln. Visuelle Eindrücke wie diese lassen Reuter Christiansens Bildwelten zu zutiefst psychologischen und symbolischen Bilderfahrungen werden, die sich nachhaltig im Bildgedächtnis verankern.