Die Mai 36 Galerie freut sich Arbeiten aus zwei neuen Serien von Thomas Ruff (*1958 in Zell am Harmersbach/Schwarzwald) zu zeigen. Seit Ende der 1970er Jahren untersucht der Künstler mit Hilfe von Serien die Zusammenhänge und Strukturen des Mediums Fotografie. Dabei interessieren ihn gleichermaßen sowohl die verschiedenen Genres der Fotografie als auch die unterschiedlichen fotografischen Techniken. Er analysiert die visuelle Bedeutung und Aussagekraft der fotografischen Genres - zu denen unter anderem Porträts, Landschaft, Architektur, Astronomie, Reportage, Aktdarstellung oder Abstraktion gehören und setzt bei seiner künstlerischen Arbeit alle ihm bekannten fotografischen Techniken und Methoden ein. So finden sich in seinem Werk eigene analoge und digitale Fotografien, am Computer erstellte virtuelle Bilder, aber auch Fotografien aus wissenschaftlichen oder privaten Archiven, Pressebilder sowie Bilder aus dem Internet.

Mit den beiden erstmals zusammen gezeigten neuen Serien tripe und flower.s überträgt Ruff analoge Fototechniken des 19. und 20. Jahrhunderts in die digitale Welt des 21. Jahrhunderts. Für tripe griff er auf Papiernegative zurück, die Captain Linnaeus Tripe (1822-1902) im Auftrag der Britischen Regierung zwischen 1856 und 1862 in Burma und Madras erstellt hatte und die sich heute im Archiv des Victoria & Albert Museum in London befinden. Dabei interessierte Ruff sich vor allem für die von Tripe angewandte Technik der Fotografie mit Papiernegativen, die im 19. Jahrhundert vor allem für „Reisefotografie“ die übliche Praxis war, da diese Negative leichter und so besser für Reisen geeignet waren. Bei diesen Negativen wird die lichtsensitive Schicht auf Papier aufgetragen und dieses dann anstatt Glas in die Kamera eingelegt. Durch eine Kooperation mit dem V&A konnte er die noch erhaltenen Negative im Format 30,5 x 38 cm sichten und anschließend einige für seine eigene Arbeit auswählen. Alle zeigten deutliche Alterungsspuren, einige waren durch Schimmelbefall, Wasser oder chemische Veränderungen beschädigt. Bei vielen hatte die dünne Wachsschicht, die aufgetragen worden war um das Papier transparenter zu machen, deutliche Knick- bzw. Bruchspuren.

Ruff ließ die Negative reproduzieren und wandelte sie anschließend in ein Positiv, wodurch der bräunliche Farbton des Negativs in einen cyanblauen invertiert wurde. Um beide Farbtöne im Bild zu haben, legte er zwei Bilder in je einer Farbversion übereinander und entfernte danach Bereiche des bräunlichen Bildes, sodass sowohl die Farbigkeit des Negativs als auch des Positivs sichtbar wurden. Mit der Vergrößerung des Bildes kamen zusätzlich die Textur des Papiers sowie alle Bearbeitungen, Beschädigungen und Veränderungen zum Vorschein. Ruff möchte mit dieser Serie die Schönheit und visuelle Eigenart des für die Geschichte der Fotografie fundamental wichtigen Negativs hervorheben, das in der Zeit der Digitalisierung zu verschwinden droht.

Mit flower.s greift Ruff eine andere wichtige Technik der Fotografie auf, die ebenfalls in Zeiten der Digitalisierung kaum noch angewandt wird: (Pseudo-)Solarisation auch Sabattier-Effekt genannt. Es handelt sich dabei um eine zufällig entdeckte Technik, bei der das Negativ / Positiv während der Belichtung in der Dunkelkammer einer diffusen Zweitbelichtung ausgesetzt wird, so dass es zu einer partiellen Umkehr von Licht- und Schattenbereichen in der Fotografie kommt. Bekanntester Nutzer dieser Technik war Man Ray, der in den späten 1920er Jahren gemeinsam mit Lee Miller diese Technik perfektionierte. Ruff transportiert diese Technik mit den flower.s ins 21.

Jahrhundert. Zunächst fotografiert er mit einer Digitalkamera Blumen oder Blätter, die auf einem Leuchttisch arrangiert wurden. Anschließend wendet er auf die Bilder in einer „digitalen Dunkelkammer“ den Sabattier-Effekt an und bringt so dass positive und negative Partien sich gleichmäßig überlagern. Das Bild wird anschließend digital auf ein altes, schmutziges Papier belichtet. Im Gegensatz zu der analogen Dunkelkammertechnik, kann Ruff dank der digitalen Technik alle einzelnen Schritte genau kontrollieren und den Zufall ausschließen. Dieses ist - wie bei Fotogrammen - bei der analogen Belichtung nicht möglich, da sich die Veränderung des Bildes während der Zweitbelichtung nicht vorhersagen lässt.

Mit beiden Serien fügt Ruff einen weiteren Baustein zu seinen bisherigen visuellen Überlegungen zu den Techniken und Möglichkeiten der Fotografie, der Frage nach der Bildgenerierung und der Art der Wahrnehmung von Bildern. In einem Interview mit Martin Barnes zur Ausstellung einiger Arbeiten aus der Serie tripe im Victoria & Albert Museum 2018 formulierte er es so: „But maybe it’s all about history, and the different processes, techniques and technology of photography, and how rich the photographic world is. I hope there’s more to be discovered, and I’m looking forward to that. My part in this whole process is about curiosity.” Seit über 35 Jahren stellt Thomas Ruff weltweit in Galerien und wichtigen Museen aus, zuletzt 2017 in der Whitechapel Art Gallery sowie 2018 im Victoria & Albert Museum, beide in London. Er hat mehrfach an wichtigen internationalen Ausstellungen wie der documenta in Kassel (1997) oder der Biennale von Venedig (1995 Deutscher Pavillon, 2005 Hauptausstellung im Italienischen Pavillon) teilgenommen. Seine Werke sind in bedeutenden Sammlungen wie dem Hamburger Bahnhof in Berlin, der Kunstsammlung Nordrhein-Westfalen in Düsseldorf, der Tate Modern in London, dem Metropolitan Museum in New York, dem MoMA in New York oder der EmanuelHofmann-Stiftung in Basel vertreten. Die enge Zusammenarbeit mit der Mai 36 Galerie, die regelmäßig neue Arbeiten des Künstlers ausstellt, reicht bis 1988 zurück.