Bettina Pousttchi (*1971 in Mainz, lebt in Berlin) arbeitet an der Schnittstelle von Skulptur, Fotografie und Architektur. Ihre temporären fotografischen Interventionen im öffentlichen Raum bedecken oft ganze Häuserfassaden und nehmen Bezug auf den urbanen oder historischen Kontext eines Ortes. Pousttchi reflektiert die Rolle der Fotografie im digitalen Zeitalter und befragt das Verhältnis von Erinnerung und Geschichte aus transnationaler Perspektive.

Für ihre Ausstellung „In Recent Years“ in der Berlinischen Galerie entwickelt sie eine Fassadenarbeit, die den gesamten Eingangsbereich des Museums einnimmt. Darüber hinaus zeigt sie in der ersten großen Ausstellungshalle einen Überblick ihrer skulpturalen und fotografischen Werke, darunter auch jüngst entstandene Arbeiten.

Das netzartige Motiv ihrer Intervention an der Glasfassade der Berlinischen Galerie ist ein Hybrid aus architektonischen Strukturen. Das Muster basiert auf Fotografien der Künstlerin von Fachwerkhäusern, die sie digital bearbeitet hat. In der Gesamtheit entsteht eine ornamentale Form, welche die Architektursprache des europäischen Kulturraums mit der Vorderasiens verbindet. Dieser Verschränkung der Perspektiven liegt ein transnationaler Gedanke zugrunde, der zentral ist für das Werk der Künstlerin.

Pousttchi verweist mit dieser Synthese auf die fluiden Grenzen zwischen den Kulturen und nationalen Identitäten, die sich insbesondere auch in der unmittelbaren Nachbarschaft der Berlinischen Galerie erfahren lassen.

Sie fragt zugleich danach, wessen Geschichte und Kultur im öffentlichen Raum erzählt und repräsentiert wird: Welche lokale und auch nationale Identität wird durch städteplanerische und architektonische Entscheidungen konstruiert? Im Museum präsentiert Pousttchi skulpturale Arbeiten, die den Stadtraum thematisch nach innen bringen und mit denen sie ihr Interesse an den Strukturen des öffentlichen Raumes vertieft. Sie bestehen aus transformiertem Stadtmobiliar wie Straßenpfosten, Baumschutzbügeln oder Fahrradständern. Diese Objekte begrenzen öffentliche Räume und regulieren Bewegung. Als Barrieren im Stadtraum definieren sie Zugänglichkeit und werden doch im Alltag häufig nicht bewusst wahrgenommen.

Die eigens für die Ausstellung in der Berlinischen Galerie entstandene Skulpturengruppe besteht aus Leitplanken: Die Künstlerin hat die einzelnen Teile mechanisch verformt und zu bis zu 4 Meter hohen Skulpturen arrangiert - teilweise in kräftiger Farbgestaltung. Die funktionalen Objekte sind auch in der veränderten Form wiedererkennbar und vermitteln deutlich die Kräfte, die auf das Material eingewirkt haben. In ihrer Bewegtheit haben die Skulpturen mitunter anthropomorphe Bezüge. Durch ihre monochromen Oberflächen verschmelzen die einzelnen Teile zu einer geschlossenen Form. Die vertikale Positionierung der eigentlich horizontal verwendeten Elemente erzeugt eine veränderte räumliche Erfahrung und unterstreicht den Architekturbezug im Werk der Künstlerin.

Ein weiterer Teil der Ausstellung im Innenraum zeigt Pousttchis fotografische Arbeit „World Time Clock“ (2008–2016), die in Berlin ihren Ursprung hat. Für die umfangreiche Fotoserie reiste die Künstlerin über acht Jahre hinweg in mehreren Etappen in die unterschiedlichsten Zeitzonen der Welt. An jedem dieser Orte fotografierte sie eine öffentliche Uhr zur immer gleichen Zeit, 13:55 Uhr. So entstand eine weltumspannenden Arbeit zur politischen und sozialen Organisation von Zeit und Raum in Städten wie New York, Moskau, Hongkong, Sydney, Taschkent, Kapstadt, Rangun, Rio de Janeiro u.a. Pousttchi entwickelt mit „World Time Clock“ ein philosophisch hintergründiges Bild über Gleichzeitigkeit und einer von Zeit und Raum losgelösten globalisierten Wirklichkeit. Der enge Bildausschnitt blendet lokale Bezüge weitgehend aus, wodurch sich die Aufnahmen stark von klassischer Reisefotografie unterscheiden, die sich häufig gerade den Besonderheiten eines jeweiligen Ortes widmet. Vielmehr hat Pousttchi ihre Fotografien digital so nachbearbeitet, dass sie homogen schwarzweiß sind. Sie werden gleichrangig nebeneinander präsentiert und verweisen so auf eine universelle Gültigkeit. Seit dem 19. Jahrhundert gibt es ein standardisiertes Zeitsystem. Die Einführung der Standard Time wurde Mitte des 19. Jahrhunderts wesentlich durch die britische Eisenbahn befördert und war essentiell für die Entwicklung globaler Wirtschaft und Kommunikation. Sie ist damit aber auch eng mit dem Kolonialismus verbunden, der die vermehrte Existenz von Uhren im öffentlichen Raum beförderte. „World Time Clock“ hingegen visualisiert eine neue Weltordnung, in der es keinen Mittelpunkt gibt, sondern eine Vielzahl gleichberechtigter Zentren.

Nach einer ersten Präsentation im Hirshhorn Museum and Sculpture Garden in Washington DC ist die 24-teilige Fotoserie jetzt erstmals in Deutschland zu sehen. Bettina Pousttchi wurde 1971 in Mainz geboren. Sie studierte an der Kunstakademie Düsseldorf und absolvierte das Whitney Independent Study Program in New York. Große Bekanntheit erlangte sie durch ihre Fotoinstallation Echo (2009/2010), mit der sie an der Fassade der Temporären Kunsthalle Berlin ein Nachbild des damals gerade abgerissenen Palastes der Republik errichtete. In den vergangenen Jahren hat sie zahlreiche internationale Einzelausstellungen realisiert, so am Hirshhorn Museum and Sculpture Garden in Washington DC, dem Arts Club of Chicago, der Phillips Collection in Washington, D.C., dem Nasher Sculpture Center in Dallas, der Schirn Kunsthalle Frankfurt und der Kunsthalle Basel. Pousttchi lebt in Berlin.

Die Ausstellung wird ermöglicht durch den Hauptstadtkulturfonds und findet im Rahmen der Berlin Art Week (11. bis 15.9.19) statt.