Am Anfang steht immer der weiße Karton. Der Stift schwebt frei über die feine Oberfläche, ohne dass ein Gedanke seinen Fluss zu blockieren vermag. Kein Hindernis steht im Weg, kein Zweifel, keine Abneigung. Und siehe da, eine neue Welt entsteht. Die Geburt ist im Gange, unumkehrbar. Die Energie des Künstlers bahnt sich den Weg ins Außen, um eine Spur im Jetzt zu hinterlassen und zu wachsen. Der Punkt wird Linie, wird Form, wird real!

Donato di Zio liebt diesen Schöpfungsakt, „il viaggio emozionale”, wie er sagt, die emotionale Reise, die Gefühle nahezu unbewusst hervorbringe. Auch wenn die Bildidee seit längerem in Gedanken klar sei, wisse man nie genau, was einen emotional erwarte. „Alles wird von jenen Gefühlsimpulsen beeinflusst, die im Moment der reinen Schöpfung entstehen und einen bis zur Fertigstellung begleiten. Es gibt natürlich Werke, die aus einer gewissen Dynamik heraus erwachsen, schnell und selbstverständlich. Andere wiederum benötigen mehr Zeit, um zu reifen, nicht nur aus Gründen der gewählten Technik. Man muss Geduld aufbringen, sie betrachten, ihre und meine Bedürfnisse respektieren, ihnen zuhören bis man wieder aktiv eingreifen kann. Aber jedes Mal ist der Beginn des Schaffensprozesses an einen starken emotionalen Impuls gebunden”. (1)

Die Vorfreude auf das Erleben der eigenen Empfindungswelt bedingt bei Di Zio die Kraft, die Anstoß zur ästhetischen Äußerung wird. Auf die Erforschung grafischer Elemente bezogen, beschreibt sie Kandinsky 1926 in seiner analytischen Schrift Punkt und Linie zu Fläche folgendermaßen: „Wenn eine von außen kommende Kraft den Punkt in irgendeiner Richtung bewegt, so kommt der erste Typ der Linie zustande…”(2), die den deutlichen „Wunsch in sich trägt, eine Fläche zur Welt zu bringen: sich in ein kompakteres, mehr in sich geschlossenes Wesen zu verwandeln”.(3) Donato di Zio konnte sein Werk Evoluzione aus dem Jahr 2012, das in die Kunstsammlung des Palazzo Quirinale, dem Sitz des italienischen Präsidenten, aufgenommen wurde, also nicht treffender bezeichnen! In einem Schwung erkundet die Gebogene-freiwellenartige die Ebene – friedlich oszillierend von links nach rechts und zurück, sich entwickelnd, nicht überheblich, nicht grenzüberschreitend, nicht eckig oder kantig, sondern fließend kurvig, auf sich bezogen, die eigene Spur aufnehmend, sie hier und da überkreuzend, aber sich nicht in sich selbst verlierend. Auf dem Weg über das Querformat bindet sie den Betrachter an sich, ohne aufdringlich zu wirken. Sie fordert ihn lediglich freundlich auf, ihrem Pfad zu folgen und sie nicht nur als reine bewegte Linie wahrzunehmen, sondern ihre Fähigkeit zur Formgebung anzuerkennen sowie die Begegnung mit der Gestalt, die sie andeutet, zuzulassen.

In einer seiner letzten Ausstellungen in der florentinischen Biblioteca Marucelliana zeigte der Künstler neben aktuellen grafisch komplexeren Arbeiten auch erstmalig einen umfassenden Ausschnitt seines Frühwerks, das er fast zufällig sehr gut erhalten als Einlage alter Schulbücher wiederfand. Die Zeichnungen des 16jährigen sind erstaunlich ausbalanciert, konkret und offenbaren bereits seine frühe Faszination für das Element der Linie mit ihrer besonderen Eigenschaft, „ihrer Kraft zur Flächenbildung”(4). Der junge Mann neigt in seinen Darstellungen noch zur Harmonisierung, wie zum Beispiel Figure N.9, 1986 oder Equilibrismo (Ausgewogenheit), 1987 veranschaulichen. Die Linie wird hier zur geschlossenen Kontur eines abstrakt-figürlichen Wesens, das sich im Zwiegespräch mit sich selbst befindet. Ähnlich dem jungen Künstler. Dennoch steht im grafischen Sinne das Sein im Vordergrund, nicht wie anzunehmen die Suche eines Teenagers nach seiner eigenen Sprache. Donato Di Zio hat sie eben früh gefunden! Er erzählt: „Während der Schulzeit verwendete ich eine Vielzahl von Techniken, malte in Öl, Acryl, mit Pastellen oder Aquarellfarben. Dann habe ich gewählt und mich hauptsächlich in Bleistift, Tusche und Kugelschreiber verliebt, mit denen ich mich voll auszudrücken vermochte, ohne Grenzen. Für mich war das Zeichnen ein meditativer Prozess. Es gab und gibt mir die Möglichkeit zur Begegnung mit meinen eigenen Gefühlen, die ich durch meine Sprache, meine ganz persönliche künstlerische Forschung weitergeben kann. So wie bei einem Dichter. Es ist nicht nur eine Geschichte, ein Ereignis, das er in Worte fasst. Es ist die Art, wie er dies tut, sein Stil, der ihn charakterisiert.”(5)

Und er geht noch einen Schritt zurück, indem er sich erinnert: „Eigentlich empfinde ich bereits seit meiner Kindheit die Notwendigkeit, mich bildnerisch auszudrücken. Ich habe immer das Zeichnen anderen Spielen vorgezogen. Als man mir zum ersten Mal Wachskreiden schenkte, kritzelte ich sofort voller Freude ein Bild an die Wand meines Zimmers! Wohl ein kindlicher Urinstinkt. Aber die Zeichnung existiert heute noch, sie ist wie ein Wegweiser für mich. Meine Eltern haben sie nie entfernt, obwohl mich meine Mutter damals streng darauf hinwies, dass man Wände nicht bemalen sollte. Also ließ ich von den Wänden unseres Hauses ab und entdeckte das Papier als Material.” (6)

Auf Papier präsentiert Donato Di Zio heute diverse Welten; so kann eine einzige Linie Bildgegenstand sein oder aber ihre Wandlung in Struktur im Fokus der Aufmerksamkeit stehen. Auf jeden Fall sind seine künstlerischen Untersuchungen und Experimente von einer ganz eigenen Formensprache geprägt. Gillo Dorfles, bedeutender it. Kunstkritiker und -theoretiker, formuliert: „…die Besonderheit in Di Zios Arbeiten ist das segno, das Symbol, das er mit Originalität kreiert. Es wiederholt sich… Seine Werke sind organischen Charakters und daher naturähnlich, …man kann an biologische Formen des menschlichen Körpers denken”. (7)

In der Tat können sich die Spuren aus schwarzer Tinte im zweidimensionalen Raum auch zu komplexen Gebilden transformieren. Fast müsste man von Obsession sprechen, mit der sie wirbelnd oder fließend zur Struktur werden und jeden verfügbaren Platz erobern. Leere und Stillstand sind hierbei inakzeptabel. Sie vermehren und verdichten sich zu bewegten Universen mit Planetenkonstellationen, die in einer Ursuppe aus Materie schwimmen oder zu Zellkernen, die von millionen kleiner Spermien umworben werden - die Energie von Mikro- und Makrokosmos gebannt in jeder einzelnen Zeichnung. Aber es herrscht Ordnung im Gewirr ähnlich wie bei riesigen Fischschwärmen, die sich einvernehmlich plötzlich lautlos die Richtung ändernd gemeinsam fortbewegen. Zur Natur dieser Strukturen gehört die Anwesenheit von Nuklei, Spiralen, Embryonen, bereit zur Transformation in nicht dechiffrierbare Organismen oder kryptische organische Massen. Sie erwecken den Eindruck, sich aus dem Pelago (griech. freies Wasser) befreien zu wollen, der sie hervorbrachte. (9)

Rita Levi Montalcini, it. Nobelpreisträgerin der Medizin, schrieb dazu: „In der kosmischen Welt der Serie Pelago, die das Leben mit all seinen zahlreichen Aspekten erforscht, erinnern einige Werke an Mikroorganismen, die man vergrößert durch ein Mikroskop betrachtet, wodurch sich die tatsächliche Größe und Vielfalt des Kosmos wahrnehmen lässt. Darin finde ich eine Assonanz zu meiner Arbeit, die ständige Suche, die niemals endet.” (10).

Mit Akribie und höchster Präzision geht Donato di Zio wieder ans Werk. Sein Arbeitsplatz ist aufgeräumt, die Utensilien liegen fein sortiert zum Einsatz bereit neben dem neuen makellos perfekt aufgespannten Bogen Papier. „Ein wenig Ordnung muss sein”, gibt er lächelnd zu, „damit sich mein Universum erneut frei entfalten kann!” (11)

Bis Mitte Januar 2014 sind Donato Di Zios Werke unter dem Titel „Atmosfere dantesche“ in der Biblioteca Riccardiana in Florenz zu sehen. Mit hoher Sorgfalt zu Textpassagen von Dante Alighieris Inferno ausgewählt, stehen sich dort die feingliedrigen Handzeichnungen des Künstlers und großartige historische Handschriften mit ihren herrlichen Buchmalereien gegenüber.

Note:
(1) Aus:_ Interview mit Donato di Zio von Katrin Wegener_ – Florenz,06.02.2013.
(2) Wassily Kandinsky:_ Punkt und Linie zu Fläche, 7. Aufl., Benteli Verlag, Bern-Bümpliz, 1973, S. 57.
(3) Wassily Kandinsky: _Punkt und Linie zu Fläche
, 7. Aufl., Benteli Verlag, Bern-Bümpliz, 1973, S. 87.
(4) Wassily Kandinsky: Punkt und Linie zu Fläche, 7. Aufl., Benteli Verlag, Bern-Bümpliz, 1973, S. 62.
(5) Aus:_ Interview mit Donato di Zio von Katrin Wegener_ – Florenz,06.02.2013.
(6) Aus: Interview mit Donato di Zio von Katrin Wegener – Florenz,06.02.2013.
(7) Aus:_ Interview mit Gillo Dorfles über Donato Di Zio von Matteo Galbiati_ – Milano, 01.03.2011.
(8) Aus: Rezension von Gillo Dorfles, verfasst anlässlich einer Ausstellung von Di Zios Werken im Museo D’Arte Moderna Vittoria Colonna von Pescara, 15.02. – 02.03.2006.
(9) Vgl. ebd.
(10) Aus einem persönlichen Brief von Rita Levi- Montalcini an Donato di Zio vom 17.06.2009.
(11) Donato Di Zio in einem Gespräch mit Katrin Wegener in Florenz, 16.10.2012.