Der große Wunsch eines Schriftstellers ist mit Sicherheit nicht unbedingt die perfekte Geschichte, oder ein beeindruckendes Werk zu schreiben, sondern eine Figur zu schaffen, die in der Wirklichkeit so überzeugt, um in der Erinnerung der Leser zu bleiben und die Aufmerksamkeit zu erregen.

Als Edgar Allan Poe an seinen einzigen Roman, Die Erzählung des Arthur Gordon Pym aus Nantucket, arbeitete, erwartete er jedenfalls nicht dass sich seine unglückliche Figur, Richard Parker, eines Tages dermaßen mit Namen und Beruf in die Realität der englischen Seemänner verwirklichen ließe. In Poes Roman, veröffentlicht 1838, spielt Richard Parker einen Meuterer, der die Hauptfiguren; Augustus Barnard, Dirk Peters und Arthur Gordon Pym, begleitet. Da sie sich im Wrack eines Walfängers befinden und kein Essensvorrat vorhanden ist, losen sie aus, wer als Nahrung verwertet wird, bevor die anderen drei Seemänner verhungern. Das Schicksal schlägt bitterlich zu und Richard Parker muss sterben, damit seine Kameraden überleben können.

Sechsundvierzig Jahre später, im Mai 1884, legte das englische Segelboot Mignonette in Southampton ab, um eine Segelstrecke von England bis nach Südafrika zurückzulegen. Die Möglichkeit professionelle Seemänner anzuheuern gestaltete sich schwer. Die Besatzung hatte als Kapitän Tom Dudley (31 J.) und drei weitere Seemänner, Edwin Stephens (37 J.), Edmund Brooks (39 J.) und Richard Parker (17 J.). Letzterer war als Kabinenjunge beschäftigt und dessen vollständiger Name stimmte mit der Figur des Romans von Poe überein.

Bis zu diesem Punkt sind die Ereignisse und die Ähnlichkeit der Lage so identisch, dass man kaum glauben konnte, es sei real. Der Autor taucht in eine unbekannte Dimension, in der sich viele Elemente der Fiktion in einer Art potenziell künftiges Geschehen darbieten, ohne eine Absicht zu verfolgen. Dieses Phänomen ist fähig, Menschen oder Länder zu erreichen, es sieht gar keinen Unterschied und will sich nur in etwas materialisieren.

Die Mignonette geriet sechsundvierzig Tage nach dem Ablegen auf der Höhe des Kaps der Guten Hoffnung, im heutigen Südafrika, in einen Windsturm, dessen Intensität bei 6 oder 7 lag. Einen Tag später setzte sich die Windstärke fort und die Verschanzung, Fortsetzung der Bordwand eines Schiffes, wurde vollständig abgerissen. Kapitän Tom Dudley befahl, das Rettungsboot zum Einsatz zu bringen, denn er erahnte; dass sein Schiff einen Schiffbruch erleiden würde.

Die nächsten neunzehn Tage waren mit großer Wahrscheinlichkeit die schrecklichsten für alle vier. Das Schiff versank vor ihren Augen, während sie feststellten, dass das Rettungsboot undicht war und sie nur ein paar Dosen Rüben hatten. Laut Aussagen von den Überlebenden erkrankte Richard Parker an Seewasserkonsum und sein Tod sei eine Frage der Zeit gewesen; er hatte Fieber und war anscheinend durch Bakterien und andere Stoffe des Seewassers vergiftet.

Kurz danach wurde das Schicksal wie im Poes Roman mit einem Los entschieden. Das Los fiel auf Parker, er wurde ermordet und sein Körper diente als Nahrung für Dudley, Brooks und Stephens, die schon die geretteten Nahrungsmittel aus der Mignonette aufgegessen hatten. Die drei Schiffbrüchigen wurden fünf Tage später von einem deutschen Frachtschiff gerettet und im nächsten Hafen abgesetzt. Ein Gerichtsverfahren wegen Mord durch Kannibalismus wurde im November des gleichen Jahres eröffnet, über mehrere Instanzen gezogen, und ganz unabhängig von der Sentenz ist das Geschehen unter Regina v. Dudley and Stephens bekannt, Thema des Jurastudiums in Großbritannien.

Der Fall ist die Kopie eines Kapitels des Romans und sogar das Opfer hat den gleichen Vor- und Nachnamen. Doch, was aber viele Leser Poes Anfang Dezember 1884 erleben mussten, entspringt dem natürlichen Gang einer literarischen Figur. Denn anstatt aus der Realität in eine fiktive Geschichte zu kommen, flüchtet das fiktive Geschöpf sechsundvierzig Jahre nach der ersten Veröffentlichung aus den Papierseiten in die Wirklichkeit.

Wie kann das geschehen? Wie würde dieses Phänomen bei den Lesern und Kritikern ankommen? Was hat es für einen Effekt in der Gesellschaft gehabt? Und wie hätte der Autor reagiert? All diese Fragen gehören zu einer natürlichen Neugier, deren Ursprung eine verstörende Realität ist.

Der mysteriöse Zufall ist nicht einfach zu analysieren. Normalerweise baut ein Kunstschreiber seine Figuren aus echten Personen oder er verschmilzt reale mit fiktiven Wesen und macht daraus ein Neues. Wie es bei Richard Parker der Fall war, wissen wir nicht. Sollte Parkers Wesen aus der Wirklichkeit kommen, ist er in seine ursprüngliche Umgebung zurückgekehrt. Sollte es eine Mischung sein, ist er irgendwie mit wahren und fiktiven Charakteren einer Persönlichkeit im viktorianischen Großbritannien aufgetaucht.

In beiden Situationen trägt Richard Parker aus seiner jüngsten Vergangenheit, nämlich dem Roman von Edgar Allan Poe, den gleichen Namen und Beruf. Was uns aber nachdenklich macht, ist, dass sein Tod unterschiedslos geschah, im Vergleich mit der Fantasie des Autors.

Ein Romancier stellt sich manchmal ungewöhnliche Zustände und Konstellationen vor und oft möchte er der Gesellschaft einen Zustand schwerwiegender Wahrscheinlichkeit voraussagen. Das Szenario war unter Seemännern und Schiffspassagieren im 19. Jh. vorstellbar und angelehnt an das Gewohnheitsrecht. Dieser erlaubter Mord oder Totschlag im Notfall (hiermit ist der Fall einer Katastrophe auf hoher See gemeint; unter englischer Flagge.) Also ist der Autor davon ausgegangen, es müsse irgendwann passieren, denn die Elemente für eine gerichtliche Verteidigung seien auch vorhanden und die Situation sei auch unter Umständen Vox Populi gewesen.

Offensichtlich schließt Edgar Allan Poe unabsichtlich einen Kreis, dessen unendliche Punkte die endlichen Perspektiven der Leser verkörpern und dessen Mittelpunkt der Schiffbrüchige Richard Parker ist.